Urteil : Initiativrecht des Betriebsrats im Bereich des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG : aus der RDV 4/2015, Seite 207 bis 209
(Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Januar 2015 – 10 TaBV 1812/14 –)
Der Betriebsrat hat auch im Bereich des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht. Ob es im Einzelfall gerechtfertigt ist, in das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer einzugreifen, ist bei der Ausübung der Mitbestimmung zu beurteilen.
Sachverhalt:
Die Beteiligten streiten über die Einsetzung einer Einigungsstelle im Zusammenhang mit der elektronischen Zeiterfassung.
Bislang wird im Betrieb das elektronische System Personaleinsatzplanung (PEP) eingesetzt. Dieses wird zur Dienstplanung/Personaleinsatzplanung sowie zur Dienstplanabrechnung genutzt. Dabei ist bei einer Abweichung der Ist-Arbeitszeit von der in PEP enthaltenen Soll-Arbeitszeit ein Korrekturbogen manuell auszufüllen und von einer Zeitkorrekturbeauftragten in der PEP-Datenbank zu erfassen.
Spätestens seit Dezember 2011 wurde in der Unternehmensgruppe, der die Arbeitgeberin angehört, geplant, die elektronische Zeiterfassung von PEP auf eine sogenannte positive Zeitwirtschaft (PZW) umzustellen. Mit diesem System sollte die Ist-Arbeitszeit mittels Chipkarte an Terminals jeweils elektronisch erfasst und elektronisch an das PEP-System übermittelt werden. Entsprechendes plante die Arbeitgeberin im hiesigen Betrieb. Zur Einführung sollte eine Muster-Betriebsvereinbarung PZW eines Gesamtbetriebsrates aus der Unternehmensgruppe herangezogen werden. Mit diesem Regelungs-Muster war der hiesige Betriebsrat weitgehend einverstanden. Die Betriebsparteien konnten jedoch keine Einigung über die Standorte der Erfassungsterminals erzielen. Der Betriebsrat teilte mit Schreiben vom 15. Februar 2012 an den Geschäftsbereich Arbeitsrecht mit, dass sie sich mit dem Hausleiter und dem Vertriebsleiter bislang nicht über die Standorte der Terminals hätten einigen können.
Die Arbeitgeberin teilte sodann mit Schreiben vom 22. März 2012 an den Betriebsrat mit, dass sie sich aufgrund des derzeitigen Verhandlungsstandes im Hinblick auf die Aufstellungsorte für die Zeiterfassungsterminals dazu entschieden habe, von einer Einführung der PZW im hiesigen Betrieb Abstand zu nehmen.
Nach weiterem Schriftverkehr im Juli und August 2012 und sachverständiger Prüfung für den Betriebsrat forderte der Betriebsrat die Arbeitgeberin mit Schreiben vom 23. November 2012 erneut zur Fortsetzung der Verhandlungen auf. Unter dem 8. Oktober 2013 beschloss der Betriebsrat, die hiesigen Verfahrensbevollmächtigten, das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG im Hinblick auf die Verhandlung einer Betriebsvereinbarung „Positive Zeitwirtschaft“ (BV PZW) sowohl außergerichtlich als auch gerichtlich gegenüber der Arbeitgeberin durchzusetzen.
Im Rahmen weiteren Schriftverkehrs lehnte die Arbeitgeberin unter dem 1. November 2013 unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 28. November 1989 – 1 ABR 97/88 und das dort postulierte fehlende Initiativrecht des Betriebsrates bei der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG weitere Gespräche und Verhandlungen ab.
Aus den Gründen:
3. Eine Einigungsstelle im Sinne des § 76 BetrVG kann gemäß § 99 Abs. 1 ArbGG durch das Arbeitsgericht nur eingerichtet werden, wenn sie im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 2 ArbGG nicht offensichtlich unzuständig ist. Offensichtlich unzuständig ist eine Einigungsstelle nur dann, wenn bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht sofort erkennbar ist, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates in der fraglichen Angelegenheit unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt in Frage kommt, sich also die Streitigkeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat erkennbar nicht unter einem mitbestimmungspflichtigen Tatbestand subsumieren lässt (vgl. nur LAG Hamm, Beschluss vom 16. Dezember 2014, 7 TaBV 73/14; LAG Düsseldorf, Beschluss vom 25. August 2014 – 9 TaBV 39/14; LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. April 2014 – 4 TaBV 638/14; LAG Hamburg, Beschluss vom 26. März 2014 – 5 TaBV 3/14; LAG Köln, Beschluss vom 19. Februar 2014 – 11 TaBV 90/13 jeweils mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung und Literatur). Die Frage der offensichtlichen Unzuständigkeit entbindet nach alledem das Gericht im Verfahren nach § 99 ArbGG nicht davon, überhaupt einen mitbestimmungspflichtigen Tatbestand festzustellen.
3.1 Nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu geeignet sind, Leistung und/oder Verhalten von Arbeitnehmern zu überwachen. Zu diesen technischen Einrichtungen zählt auch ein Zeiterfassungssystem. Denn in einem Zeiterfassungssystem werden typischerweise zumindest die Komm- und Gehzeiten von Arbeitnehmern sowie vielfach auch die Pausenzeiten technisch erhoben und verarbeitet. Dass die positive Zeitwirtschaft ein solches zur Überwachung geeignetes System ist, ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Streitig ist allerdings, ob der Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung oder Intensivierung der Überwachung von Arbeitnehmern hat.
3.2 Der Gesetzgeber hat bei der Einführung des § 87 BetrVG im Jahre 1972 ganz bewusst nicht zwischen Mitbestimmungsrechten mit Initiativrecht des Betriebsrates und solchen ohne Initiativrecht des Betriebsrates unterschieden. Der „Entwurf eines Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Betrieb und Unternehmen“ der Bundestagsfraktion der CDU/CSU (BT-Drs. VI/1806) beinhaltete im § 29 Abs. 1 unter der Überschrift „Mitbestimmungsrecht“ einerseits die Regelung
„Folgende Angelegenheiten können vom Arbeitgeber und Betriebsrat nur gemeinsam geregelt werden“
und andererseits im § 30 unter der Überschrift „Zustimmungsrecht“ die Regelung
„Folgende Angelegenheiten können vom Arbeitgeber nur mit vorheriger Zustimmung des Betriebsrats durchgeführt werden“.
Im Falle des § 29 beinhaltete Abs. 2
„Ist eine Übereinstimmung über die vorstehenden Angelegenheiten nicht zu erzielen, so entscheidet die Einigungsstelle verbindlich“,
Im Falle des § 30 demgegenüber beinhaltete der dortige Abs. 2
„Ist eine Verständigung nicht zu erzielen, so kann der Arbeitgeber bei der Einigungsstelle die verbindliche Entscheidung über die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats beantragen“.
Nach dem Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Arbeits- und Sozialordnung (vgl. zu BT-Drs. VI/2729) wurde dieser Vorschlag nach Beratung im Ausschuss abgelehnt und nicht weiter verfolgt.
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung war in seiner Gesamtheit der Ansicht, dass die Beteiligung des Betriebsrates in sozialen Angelegenheiten gegenüber dem geltenden Recht auszuweiten sei. Allerdings sprach sich die Mehrheit gegen die im CDU/ CSU-Entwurf vorgesehene Aufteilung der sozialen Angelegenheiten aus, die zwischen solchen, in denen der Betriebsrat ein echtes Mitbestimmungsrecht, d.h. auch ein eigenes Initiativrecht hat, und solchen, die ausschließlich von der Initiative des Arbeitgebers abhängen und lediglich der Zustimmung des Betriebsrates bedürfen, unterscheidet. Die Mehrheit des Ausschusses erkannte an, dass nach der CDU/CSU-Vorlage der Kreis der beteiligungsbedürftigen Angelegenheiten ebenfalls erweitert werden sollte. Sie sah jedoch in dieser Aufspaltung eine sachlich nicht gebotene Einschränkung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrates (zu BTDrs. VI/2729, S. 4).
3.3 Dennoch hatte das Bundesarbeitsgericht mit einer vereinzelten Entscheidung vom 28. November 1989 – 1 ABR 97/88 – entschieden, dass § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG den Betriebsrat nicht berechtige, die Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung zu verlangen und gegebenenfalls über den Spruch einer Einigungsstelle zu erzwingen. Dieser Satz jener Entscheidung, den das Bundesarbeitsgericht zu keinem Zeitpunkt so wiederholt hat, hat seither die meisten Instanzgerichte veranlasst, ein Initiativrecht des Betriebsrates zur Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung abzulehnen und dieses sogar als offensichtlich nicht bestehend anzunehmen. Die Voraussetzungen für eine solche richterliche Rechtsfortbildung sind jedoch nicht gegeben (vgl. zur richterlichen Rechtsfortbildung allgemein LArbG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. Juni 2014 – 10 TaBVGa 146/14).
Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass ein Gericht seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt (BAG, Urteil vom 10. Dezember 2013 – 9 AZR 51/13). Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG wird die Staatsgewalt vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Die Aufgabe der Rechtsprechung beschränkt sich darauf, den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes auch unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen oder eine planwidrige Regelungslücke mit den anerkannten Auslegungsmethoden zu füllen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes hintanstellt und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (BVerfG, Urteile vom 11. Juli 2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08).
3.4 Bereits in der Entscheidung vom 28. November 1989 hatte das Bundesarbeitsgericht selbst erste Zweifel an der zuvor geäußerten Rechtsauffassung formuliert. Denn dort wurde zugleich angemerkt:
„Ob ein aus anderen Gründen gegebenes Interesse des Betriebsrats an der Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung auch ein entsprechendes Initiativrecht des Betriebsrats begründet, kann sich allenfalls aus anderen Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes, nicht aber aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ergeben.“
In jenem Verfahren meinte der Betriebsrat, dass er die technische Zeiterfassung im Zusammenhang mit seinem Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 10 BetrVG benötige, da die maschinelle Arbeitszeiterfassung eine Frage der betrieblichen Ordnung sei und darüber hinaus der Lohngestaltung diene. Die Arbeitnehmer würden in erheblichem Umfange Überstunden leisten, deren leistungsgerechte Vergütung der Arbeitgeber ablehne. Nur eine maschinelle Arbeitszeiterfassung setze ihn, den Betriebsrat, in die Lage, auf die Einhaltung der Arbeitszeit und der Arbeitszeitvorschriften hinzuwirken und darüber zu wachen, dass geleistete Überstunden vergütet würden. Dieses hielt das Bundesarbeitsgericht zur Begründung eines Initiativrechtes nicht für ausreichend, da der Arbeitgeber dem Betriebsrat nur diejenigen Unterlagen zur Verfügung zu stellen habe, die er selbst besitze. Der Betriebsrat könne nicht verlangen, dass der Arbeitgeber nur für ihn Unterlagen erstelle und zu deren Erstellung erforderliche Einrichtungen anschaffe.
Diese Rechtsprechung hat das Bundesarbeitsgericht bereits mit dem Beschluss vom 6. Mai 2003 im Verfahren 1 ABR 13/02 geändert. Eine Pflicht des Arbeitgebers zur Erteilung solcher Auskünfte zur Arbeitszeit bestehe auch dann, wenn der Arbeitgeber über die entsprechenden Kenntnisse selbst bislang nicht verfüge. Die gegenteilige Auffassung überzeuge nicht.
Daten zur Arbeitszeit der Arbeitnehmer, über die der Betriebsrat Auskunft begehre und deren Kenntnis er zur Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgabe benötige, würden im Betrieb ohne weiteres und ständig anfallen. Der Arbeitgeber, der über die tatsächlichen Arbeitszeiten seiner Mitarbeiter Auskunft geben solle, müsse sich diese Daten nicht etwa von dritter Seite erst beschaffen. Er müsse lediglich auf geeignete Weise dafür sorgen, dass die objektiv vorhandenen Daten im Betrieb zur Kenntnis genommen und mitteilbar gemacht würden. Anders als im Fall nicht existierender Unterlagen brauche er dazu nichts herzustellen, sondern nur etwas Gegebenes wahrzunehmen.
Zu einer solchen Wahrnehmung der anfallenden Daten sei der Arbeitgeber schon unabhängig von der Überwachungsaufgabe des Betriebsrats verpflichtet. Darauf, ob er die Daten erheben wolle, komme es nicht an. Ein Verzicht auf die Erhebung von Arbeitszeitdaten der Arbeitnehmer sei keine zu respektierende Ausübung der betrieblichen Organisations- und Leitungsmacht des Arbeitgebers (BAG, Beschluss vom 06. Mai 2003 – 1 ABR 13/02).
3.5 Sicherlich ist der Grundansatz des Bundesarbeitsgerichts in der Entscheidung vom 28. November 1989 zutreffend, dass der Betriebsrat in der Regel einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer eher verhindern als ermöglichen will, aber es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass es andere schützenswerte Rechte gibt, die den Persönlichkeitsschutz überwiegen (vgl. Gola/Wronka Handbuch Arbeitnehmerschutz, 6. Aufl. 2013, RN 1891; Beispiele dazu finden sich auch schon bei Schwarz, Arbeitnehmerüberwachung und Mitbestimmung, 1982 S. 37 f.). Deshalb gibt es neben dem Willen des Gesetzgebers auch ansonsten keinen Grund, den Betriebsrat von jeder Initiative zur einschlägigen technischen Ausrüstung auszuschließen. Soweit sich aus den Resultaten solcher Initiativen Unvereinbarkeiten mit geschützten Persönlichkeitsrechten betroffener Arbeitnehmer ergeben sollten, erfolgt die Abgrenzung nicht beim Initiativrecht, sondern durch die „Binnenschranken der Betriebsautonomie“, also hier durch die Ermessensausübung der Einigungsstelle (vgl. ArbG Berlin, Beschluss vom 20. März 2013 – 28 BV 2178/13 m.w.N.).
Damit kann sich allein aus dem vom Betriebsrat geltend gemachten Regelungsgegenstand keine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle ergeben. Der Betriebsrat hat auch im Rahmen des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht (so auch Fitting, Betriebsverfassungsgesetz 27. Aufl. § 87 RN 251; HaKoBetrVG/Kohte, 4. Aufl. § 87 RN 20; Däubler/Kittner/Klebe/Wedde BetrVG 13. Aufl. § 87 RN 166; Däubler, Gläserne Belegschaften 6. Aufl. § 14 RN 815). Ob es hinreichende Gründe gibt, mit einer Betriebsvereinbarung zur positiven Zeitwirtschaft das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer im Betrieb zu berühren, muss die Einigungsstelle im Rahmen des von ihr nach § 76 Abs. 5 Satz 3 BetrVG auszuübenden Ermessens im Lichte des § 75 Abs. 2 BetrVG selbst entscheiden.