Urteil : Exzessive Verbraucheranfragen bei Datenschutzaufsichtsbehörden : aus der RDV 2/2025, Seite 114 bis 116
(EuGH, Urteil vom 9. Januar 2025 – C-416/23 –)
- Art. 57 Abs. 4 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ist dahin auszulegen, dass der darin enthaltene Begriff „Anfrage“ Beschwerden nach Art. 57 Abs. 1 lit. f) und Art. 77 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 umfasst.
- Art. 57 Abs. 4 der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass Anfragen nicht allein aufgrund ihrer Zahl während eines bestimmten Zeitraums als „exzessiv“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden können, da die Ausübung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Befugnis voraussetzt, dass die Aufsichtsbehörde das Vorliegen einer Missbrauchsabsicht der anfragenden Person nachweist.
- Art. 57 Abs. 4 der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass eine Aufsichtsbehörde bei exzessiven Anfragen durch eine mit Gründen versehene Entscheidung wählen kann, ob sie eine angemessene Gebühr auf der Grundlage der Verwaltungskosten verlangt oder sich weigert, aufgrund der Anfrage tätig zu werden, wobei sie alle relevanten Umstände berücksichtigen und sich vergewissern muss, dass die gewählte Option geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist.
Zu den Vorlagefragen:
Zur ersten Frage:
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO dahin auszulegen ist, dass der darin enthaltene Begriff „Anfrage“ „Beschwerden“ nach Art. 77 Abs. 1 DS‑GVO umfasst. […]
Wie der Generalanwalt in Nr. 23 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist der Begriff „Anfrage“ gemäß seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch besonders weit, da er potenziell jedes Ersuchen einer Person oder Einrichtung umfasst. […]
Wie der Generalanwalt in den Nrn. 28 bis 30 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, sollte den Aufsichtsbehörden – da die Regel ist, dass sie sich mit den bei ihnen eingereichten Beschwerden befassen – nur in Ausnahmefällen gestattet werden, von der in Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO vorgesehenen Befugnis Gebrauch zu machen.
Aus diesen Bestimmungen kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO, soweit dort der Begriff „Anfrage“ verwendet wird, nur auf Anfragen i.S.v. Art. 57 Abs. 1 lit. e) DS‑GVO anzuwenden ist. Art. 57 Abs. 3 DS‑GVO gilt nämlich für alle Aufgaben der Aufsichtsbehörden einschließlich der Bearbeitung von Beschwerden nach Art. 57 Abs. 1 lit. f) DS‑GVO.
In diesem Kontext müsste Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO, da er eine Ausnahme vom Grundsatz der Unentgeltlichkeit der von den Aufsichtsbehörden erfüllten Aufgaben vorsieht, ohne dabei diese Ausnahme auf bestimmte besondere Aufgaben der Aufsichtsbehörden zu beschränken, auch für die Bearbeitung von Beschwerden nach Art. 57 Abs. 1 lit. f) DS‑GVO gelten, zumal diese Aufgabe einen wesentlichen Auftrag der Aufsichtsbehörden darstellt. Außerdem muss die betroffene Aufsichtsbehörde diese Beschwerden mit aller gebotenen Sorgfalt bearbeiten (Urt. v. 07.12.2023, SCHUFA Holding [Restschuldbefreiung], C‑26/22 und C‑64/22, EU:C:2023:958, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Umgekehrt würde eine Auslegung, wonach der Begriff „Anfrage“ in Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO nur Anfragen nach Art. 57 Abs. 1 lit. e) DS‑GVO und nicht auch Beschwerden nach Art. 57 Abs. 1 lit. f) und Art. 77 Abs. 1 DS‑GVO umfasst, Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO eines großen Teils seiner praktischen Wirksamkeit berauben und dem wirksamen Schutz der durch diese Verord‑ nung garantierten Rechte zuwiderlaufen (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 12.01.2023, Nemzeti Adatvédelmi és Információszabad‑ ság Hatóság, C‑132/21, EU:C:2023:2, Rn. 47). […]
In diesem Kontext ist, wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, für die Verfolgung des Ziels, ein gleichmäßiges und hohes Schutzniveau für natürliche Personen in der Union sicherzustellen, das ordnungsgemäße Funktionieren der Aufsichtsbehörden zu gewährleisten, in‑ dem verhindert wird, dass dieses dadurch behindert wird, dass offenkundig unbegründete oder exzessive Beschwerden i.S.v. Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO eingereicht werden. Diese Bestimmung gibt den Aufsichtsbehörden somit die Möglichkeit, mit diesen Beschwerden besser umzugehen, indem sie die Belastung verringern, die diese Beschwerden bei ihnen auslösen können. Dass eine Aufsichtsbehörde bei offenkundig unbegründeten oder exzessiven Beschwerden eine angemessene Gebühr verlangen oder sich weigern kann, aufgrund solcher Beschwerden tätig zu werden, ist insoweit geeignet, ein hohes Schutzniveau für personenbezogene Daten zu gewährleisten.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO dahin auszulegen ist, dass der darin enthaltene Begriff „Anfrage“ Beschwerden nach Art. 57 Abs. 1 lit. f) und Art. 77 Abs. 1 DS‑GVO umfasst.
Zur zweiten Frage:
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO dahin auszulegen ist, dass der bloße Umstand, dass Anfragen in großer Zahl gestellt wurden, ausreichen kann, um sie als „exzessiv“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen, oder ob eine solche Einstufung darüber hinaus eine Missbrauchsabsicht der anfragenden Person voraussetzt.
Insoweit ist als Erstes, da der Begriff „exzessive Anfragen“ in der DS‑GVO nicht definiert wird, im Licht der oben in Rn. 24 angeführten Rechtsprechung auf den Sinn dieses Begriffs nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch abzustellen. Das Adjektiv „exzessiv“ bezeichnet etwas, das über das gewöhnliche oder vernünftige Maß hinausgeht oder das erwünschte oder zulässige Maß überschreitet.
Als Zweites ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO, dass Anfragen insbesondere im Fall von häufiger Wiederholung „exzessiv“ sein können. Jedoch lässt sich anhand der grammatikalischen Auslegung dieser Bestimmung nicht feststellen, ob ein solcher Fall von häufiger Wiederholung und folglich allein die Zahl der eingereichten Anfragen ausreicht, um eine solche Einstufung zu rechtfertigen. Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung ist daher die Trag‑ weite dieser Bestimmung anhand des Kontexts, in den sie sich einfügt, und der Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu prüfen. […]
Insoweit muss, wie oben in den Rn. 33, 34 und 36 ausgeführt, die Ausübung der in Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO vorgesehenen Befugnis als Ausnahme von dem in Art. 57 Abs. 3 DS‑GVO vorgesehenen Grundsatz der Unentgeltlichkeit der von den Aufsichtsbehörden erfüllten Aufgaben die Ausnahme bleiben (vgl. entsprechend Urt. v. 05.04.2022, Commissioner of An Garda Síochána u.a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 40, sowie v. 08.11.2022, Deutsche Umwelthilfe [Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen], C‑873/19, EU:C:2022:857, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung). Sie kann nur im Fall von Rechtsmissbrauch erfolgen (vgl. entsprechend Urt. v. 26.10.2023, FT [Kopien der Patientenakte], C‑307/22, EU:C:2023:811, Rn. 31), ohne dass die Zahl der eingereichten Beschwerden für sich genommen ein ausreichendes Kriterium für die Feststellung eines solchen Missbrauchs darstellen kann.
Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO spiegelt nämlich die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs wider, nach der es im Unionsrecht einen allgemeinen Rechtsgrundsatz gibt, wonach sich die Bürger nicht in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf unionsrechtliche Normen berufen dürfen (Urt. v. 21.12.2023, BMW Bank u.a., C‑38/21, C‑47/21 und C‑232/21, EU:C:2023:1014, Rn. 281 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Vor diesem Hintergrund muss eine Aufsichtsbehörde, wenn sie von der in Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch machen möchte, anhand aller relevanten Umstände jedes Einzelfalls feststellen, dass eine Missbrauchsabsicht der betroffenen Person vorliegt, wofür die Zahl der von dieser Person eingereichten Beschwerden allein nicht ausreicht. Das Vorliegen einer Missbrauchsabsicht kann aber festgestellt werden, wenn eine Person Beschwerden einreicht, ohne dass dies objektiv erforderlich ist, um ihre Rechte aus der Verordnung zu schützen. […]
Insoweit kann die Häufung von Beschwerden einer Person ein Indiz für exzessive Anfragen sein, wenn sich herausstellt, dass die Beschwerden nicht objektiv durch Erwägungen gerechtfertigt sind, die sich auf den Schutz der Rechte beziehen, die die DS‑GVO dieser Person verleiht. Dies kann z.B. dann der Fall sein, wenn eine Person eine so große Zahl von Beschwerden bei einer Aufsichtsbehörde einreicht, die eine Vielzahl von Verantwortlichen betreffen, zu denen sie nicht unbedingt einen Bezug hat, dass diese übermäßige Inanspruchnahme ihres Rechts, Beschwerden einzureichen, i.V.m. anderen Gesichtspunkten wie dem Inhalt der Beschwerden ihre Absicht erkennen lässt, die Behörde zu lähmen, indem sie sie mit Anfragen überflutet.
Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der DSB das Vorliegen einer Missbrauchsabsicht der betroffenen Person nachgewiesen hat, ohne dass die Zahl ihrer Beschwerden für sich genommen die Ausübung der in Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO vorgesehenen Befugnis rechtfertigen kann.
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO dahin auszulegen ist, dass Anfragen nicht allein aufgrund ihrer Zahl während eines bestimmten Zeitraums als „exzessiv“ im Sinne dieser Bestimmung ein‑ gestuft werden können, da die Ausübung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Befugnis voraussetzt, dass die Aufsichtsbehörde das Vorliegen einer Missbrauchsabsicht der anfragenden Person nachweist.
Zur dritten Frage:
Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO dahin aus‑ zulegen ist, dass eine Aufsichtsbehörde bei exzessiven An‑ fragen frei wählen kann, ob sie eine angemessene Gebühr auf der Grundlage der Verwaltungskosten verlangt oder sich weigert, aufgrund der Anfrage tätig zu werden. […]
In Anbetracht der Bedeutung des Beschwerderechts im Hinblick auf das Ziel, ein hohes Schutzniveau für personenbezogene Daten zu gewährleisten, der wesentlichen Rolle, die die Befassung mit diesen Beschwerden bei den Aufgaben spielt, die den Aufsichtsbehörden übertragen wurden, und der Verpflichtung dieser Behörden, sich mit aller gebotenen Sorgfalt mit diesen Beschwerden zu befassen, obliegt es diesen Behörden somit, alle relevanten Umstände zu berück‑ sichtigen und sich zu vergewissern, dass die gewählte Option geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist.
In diesem Zusammenhang könnte es eine Aufsichtsbehörde je nach den relevanten Umständen für angebracht halten, eine angemessene Gebühr auf der Grundlage der Verwaltungskosten für den durch exzessive Beschwerden verursachten Mehraufwand zu verlangen, um einer missbräuchlichen Praxis ein Ende zu setzen, die ihr ordnungsgemäßes Funktionieren beeinträchtigen kann. Die abschreckende Wirkung dieser Option könnte die Behörde sogar dazu veranlassen, sie zu bevorzugen, statt sich von vornherein zu weigern, aufgrund dieser Beschwerden tätig zu werden.
Im Licht des 129. ErwG der DS‑GVO könnten die Aufsichtsbehörden daher erwägen, in einer ersten Stufe die Zahlung einer angemessenen Gebühr auf der Grundlage der Verwaltungskosten zu verlangen, bevor sie sich in einer zweiten Stufe weigern, aufgrund einer Beschwerde tätig zu werden, da Ersteres die Rechte der betroffenen Personen aus der DS‑GVO in geringerem Maße beeinträchtigt als Letzteres. Allerdings verpflichtet Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO die Aufsichtsbehörde nicht in jedem Fall, zunächst die Option zu wählen, eine angemessene Gebühr zu verlangen.
Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 57 Abs. 4 DS‑GVO dahin auszulegen ist, dass eine Aufsichtsbehörde bei exzessiven Anfragen durch eine mit Grün‑ den versehene Entscheidung wählen kann, ob sie eine angemessene Gebühr auf der Grundlage der Verwaltungskosten verlangt oder sich weigert, aufgrund der Anfrage tätig zu werden, wobei sie alle relevanten Umstände berücksichtigen und sich vergewissern muss, dass die gewählte Option geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist.