Abo

Urteil : Wirksamkeit von Kollektivvereinbarungen über Datenverarbeitungen : aus der RDV 2/2025, Seite 106 bis 108

(EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2024 – C-65/23 –)

Rechtsprechung
Lesezeit 8 Min.

Relevanz für die Praxis

Im vorliegenden Urteil äußert sich der EuGH zur unionsrechtlichen Wirksamkeit einer Kollektivvereinbarung über die Verarbeitung personenbezogener Daten. Zwar beantwortet der EuGH nicht ausdrücklich die Frage, ob derartige Vereinbarungen eine selbstständige Rechtsgrundlage bilden können. Er stellt aber klar, dass die Vereinbarungen das grundsätzliche Schutzniveau der DS‑GVO nicht unter‑ schreiten dürfen, das sich insbesondere aus Art. 5, Art. 6 und Art. 9 Abs. 1 und 2 DS‑GVO ergibt. Die Praxis steht da‑ mit vor der Herausforderung, entsprechende Klauseln in Kollektivvereinbarungen so zu gestalten, dass sie einerseits spezifischere Vorschriften i.S.v. Art. 88 Abs. 1 DS‑GVO darstellen und andererseits das Schutzniveau der DS‑GVO halten. Bei der Bestimmung der Erforderlichkeit einer Datenverarbeitung ist der Ermessensspielraum der Betriebspartner dafür an dem der Mitgliedstaaten orientiert. Auf eine objektive Unerlässlichkeit, wie sie im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 lit. b) und f) DS‑GVO verlangt wird, kommt es hingegen nicht an.

1. Art. 88 Abs.  1 und 2 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ist dahin auszulegen, dass eine nach Art.  88 Abs.  1 dieser Verordnung erlassene nationale Rechtsvorschrift über die Verarbeitung personenbezogener Daten für die Zwecke von Beschäftigungsverhältnissen bewirken muss, dass ihre Adressaten nicht nur die Anforderungen erfüllen müssen, die sich aus Art. 88 Abs. 2 dieser Verordnung ergeben, sondern auch diejenigen, die sich aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 9 Abs. 1 und 2 der Verordnung ergeben.

2. Art. 88 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass im Fall einer in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallenden Kollektivvereinbarung der Spielraum der Parteien dieser Kollektivvereinbarung bei der Bestimmung der „Erforderlichkeit“ einer Verarbeitung personenbezogener Daten i.S.v. Art. 5, Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 9 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung das nationale Gericht nicht daran hindert, insoweit eine umfassende gerichtliche Kontrolle auszuüben.

Zu den Vorlagefragen:

Zur ersten Frage:

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art.  88 Abs.  1 und 2 DS‑GVO dahin aus‑ zulegen ist, dass eine nach Art.  88 Abs.  1 dieser Verordnung erlassene nationale Rechtsvorschrift über die Verarbeitung personenbezogener Daten für die Zwecke von Beschäftigungsverhältnissen bewirken muss, dass ihre Adressaten nicht nur die Anforderungen erfüllen müssen, die sich aus Art. 88 Abs. 2 dieser Verordnung ergeben, sondern auch diejenigen, die sich aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 9 Abs. 1 und 2 der Verordnung ergeben.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die DS‑GVO eine grundsätzlich vollständige Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften zum Schutz personenbezogener Daten sicherstellen soll. Allerdings eröffnen einzelne Bestimmungen dieser Verordnung den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, zusätzliche, strengere oder einschränkende, nationale Vorschriften vorzusehen, und lassen ihnen ein Ermessen hinsichtlich der Art und Weise der Durchführung dieser Bestimmungen („Öffnungsklauseln“) (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 30.03.2023, Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer, C‑34/21, EU:C:2023:270, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). […]

Erstens ergibt sich aus dem Wortlaut von Art.  88 DS‑GVO, dass in dessen Abs. 1 verlangt wird, dass die nach dieser Bestimmung zugelassenen „spezifischeren Vorschriften“ einen zu dem geregelten Bereich passenden Regelungsgehalt haben, der sich von den allgemeinen Regeln der DS‑GVO unterscheidet, während Art. 88 Abs. 2 DS‑GVO im Einklang mit dem Harmonisierungsziel dieser Verordnung dem Ermessen der Mitgliedstaaten, die den Erlass einer nationalen Regelung auf der Grundlage dieses Abs. 1 beabsichtigen, einen Rahmen setzt (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 30.03.2023, Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer, C‑34/21, EU:C:2023:270, Rn. 61, 65, 72 und 75). […]

Zweitens hat der Gerichtshof zu den Zielen von Art.  88 DS‑GVO bereits entschieden, dass dieser Artikel eine „Öffnungsklausel“ darstellt und dass sich die den Mitgliedstaaten durch Art. 88 Abs. 1 DS‑GVO eingeräumte Befugnis unter Berücksichtigung der Besonderheiten einer solchen Verarbeitung insbesondere durch das Bestehen eines Unterordnungsverhältnisses zwischen dem Beschäftigten und demjenigen, der ihn beschäftigt, erklärt. Die Vorgaben von Art.  88 Abs.  2 DS‑GVO spiegeln die Grenzen des Ermessens der Mitgliedstaaten in dem Sinne wider, dass der damit verbundene Bruch in der Harmonisierung nur zulässig sein kann, wenn die verbleibenden Unterschiede mit besonderen und geeigneten Garantien zum Schutz der Rechte und Freiheiten der Beschäftigten hinsichtlich der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten im Beschäftigungskontext einhergehen (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 30.03.2023, Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer, C‑34/21, EU:C:2023:270, Rn. 52, 53 und 73). […]

Art. 88 DS‑GVO kann aber nicht dahin ausgelegt werden, dass die „spezifischeren Vorschriften“, die die Mitgliedstaaten nach diesem Artikel erlassen dürfen, die Umgehung der sich aus anderen Bestimmungen dieser Verordnung ergebenden Verpflichtungen des Verantwortlichen oder gar des Auftragsverarbeiters bezwecken oder bewirken könnten, da sonst alle diese Ziele, insbesondere das Ziel, ein hohes Schutzniveau für die Beschäftigten im Fall der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten im Beschäftigungskontext sicherzustellen, beeinträchtigt würden.

Daraus folgt, dass Art. 88 Abs. 1 und 2 DS‑GVO dahin aus‑ zulegen ist, dass auch dann, wenn sich die Mitgliedstaaten auf diesen Artikel stützen, um in ihre jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnungen „spezifischere Vorschriften“ durch Rechtsvorschriften oder durch Kollektivvereinbarungen ein‑ zuführen, auch die Anforderungen erfüllt sein müssen, die sich aus den anderen Bestimmungen ergeben, auf die sich die vorliegende Frage speziell bezieht, nämlich Art. 5, Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 9 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung. Dies gilt somit u.a. für die Einhaltung des in diesen Bestimmungen vorgesehenen Kriteriums der Erforderlichkeit der Verarbeitung, nach dem das vorlegende Gericht insbesondere fragt. […]

Was insbesondere das Verhältnis zwischen Art.  88 DS‑GVO und anderen Bestimmungen dieser Verordnung betrifft, hat der Gerichtshof u.a. im Licht des achten ErwG dieser Verordnung festgestellt, dass ungeachtet etwaiger von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art.  88 Abs.  1 dieser Verordnung erlassener „spezifischerer Vorschriften“ bei jeder Verarbeitung personenbezogener Daten die Verpflichtungen beachtet werden müssen, die sich aus den Bestimmungen der Kapitel II und III DS‑GVO sowie insbesondere aus deren Art. 5 und 6 ergeben (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 30.03.2023, Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer, C‑34/21, EU:C:2023:270, Rn. 67 bis 71).

Ebenso sind die Verpflichtungen aus Art. 9 DS‑GVO bei je‑ der unter diese Verordnung fallenden Verarbeitung personenbezogener Daten zu beachten, auch wenn nach Art. 88 Abs. 1 DS‑GVO erlassene „spezifischere Vorschriften“ vorliegen. Dieser Art. 9, der die Verarbeitung der dort aufgeführten besonderen Datenkategorien regelt, gehört nämlich zu Kapitel II der Verordnung, ebenso wie deren Art. 5 und 6, deren Anforderungen im Übrigen mit denen aus Art. 9 kumulierbar sind (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 21.12.2023, Krankenversicherung Nordrhein, C‑667/21, EU:C:2023:1022, Rn. 73 und 77 bis 79). Diese Auslegung steht darüber hinaus im Einklang mit dem Zweck von Art.  9 DS‑GVO, der darin besteht, einen erhöhten Schutz vor Datenverarbeitungen zu gewährleisten, die aufgrund der besonderen Sensibilität der betreffenden Daten einen besonders schweren Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Personen darstellen können (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 04.10.2024, Lindenapotheke, C‑21/23, EU:C:2024:846, Rn.  89 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Daher müssen in dem Fall, dass zum Recht eines Mitgliedstaats „spezifischere Vorschriften“ i.S.v. Art.  88 Abs.  1 DS‑GVO gehören, die von diesen Vorschriften erfassten Verarbeitungen personenbezogener Daten nicht nur die Voraussetzungen in Art. 88 Abs. 1 und 2 DS‑GVO, sondern auch die Voraussetzungen in den Art. 5, 6 und 9 dieser Verordnung in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs erfüllen.

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 88 Abs. 1 und 2 DS‑GVO dahin auszulegen ist, dass eine nach Art.  88 Abs.  1 dieser Verordnung erlassene nationale Rechtsvorschrift über die Verarbeitung personenbezogener Daten für die Zwecke von Beschäftigungsverhältnissen bewirken muss, dass ihre Adressaten nicht nur die Anforderungen erfüllen müssen, die sich aus Art. 88 Abs. 2 dieser Verordnung ergeben, sondern auch diejenigen, die sich aus Art.  5, Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 9 Abs. 1 und 2 der Verordnung ergeben.

Zur zweiten Frage:

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 88 Abs. 1 DS‑GVO dahin auszulegen ist, dass im Fall einer in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallenden Kollektivvereinbarung der Spielraum der Parteien dieser Kollektivvereinbarung bei der Bestimmung der „Erforderlichkeit“ einer Verarbeitung personenbezogener Daten i.S.v. Art. 5, Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 9 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung das nationale Gericht daran hindert, insoweit eine umfassende gerichtliche Kontrolle auszuüben. […]

Diese Erwägungen gelten auch für die Parteien einer Kollektivvereinbarung i.S.v. Art. 88 DS‑GVO wie der im Ausgangs‑ verfahren in Rede stehenden. Wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen ausgeführt hat, müssen die Parteien einer Kollektivvereinbarung nämlich über einen Spielraum verfügen, der insbesondere hinsichtlich seiner Grenzen dem den Mitgliedstaaten zuerkannten Ermessen gleichwertig ist, da sich die „spezifischeren Vorschriften“ i.S.v. Art. 88 Abs. 1 DS‑GVO u.a. aus Kollektivvereinbarungen ergeben können. Im 155. ErwG dieser Verordnung heißt es auch, dass solche Vorschriften im Recht der Mitgliedstaaten oder in Kollektivvereinbarungen, einschließlich „Betriebsvereinbarungen“, vorgesehen werden können.

Ungeachtet des Spielraums, den Art. 88 DS‑GVO den Parteien einer Kollektivvereinbarung einräumt, muss sich daher die gerichtliche Kontrolle einer solchen Kollektivvereinbarung ebenso wie die einer nach dieser Bestimmung erlassenen Vorschrift des nationalen Rechts ohne jede Einschränkung auf die Einhaltung aller Voraussetzungen und Grenzen erstrecken können, die die Bestimmungen dieser Verordnung für die Verarbeitung personenbezogener Daten vorschreiben.

Sodann ist darauf hinzuweisen, dass eine solche gerichtliche Kontrolle speziell auf die Prüfung gerichtet sein muss, ob die Verarbeitung solcher Daten im Sinne der Art. 5, 6 und 9 DS‑GVO „erforderlich“ ist. Mit anderen Worten kann Art. 88 DS‑GVO nicht dahin ausgelegt werden, dass die Parteien einer Kollektivvereinbarung über eine Beurteilungsbefugnis verfügen, die es ihnen erlauben würde, „spezifischere Vorschriften“ einzuführen, die dazu führen, dass diese Voraussetzung der Erforderlichkeit weniger streng angewandt wird oder gar darauf verzichtet wird.

Zwar verfügen, wie das vorlegende Gericht und Irland im Wesentlichen ausgeführt haben, die Parteien einer Kollektivvereinbarung im Allgemeinen über gute Grundlagen für die Beurteilung, ob eine Datenverarbeitung in einem konkreten beruflichen Kontext erforderlich ist, da diese Parteien gewöhnlich umfangreiche Kenntnisse in Bezug auf die spezifischen Bedürfnisse im Beschäftigungsbereich und im betreffenden Tätigkeitsbereich haben. Ein solcher Beurteilungsprozess darf jedoch nicht dazu führen, dass diese Parteien aus Gründen der Wirtschaftlichkeit oder Einfachheit Kompromisse schließen, die das Ziel der DS‑GVO, ein hohes Schutzniveau der Freiheiten und Grundrechte der Beschäftigten bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten zu gewährleisten, in unzulässiger Weise beeinträchtigen könnten. […]

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 88 Abs. 1 DS‑GVO dahin auszulegen ist, dass im Fall einer in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallenden Kollektivvereinbarung der Spielraum der Parteien dieser Kollektivvereinbarung bei der Bestimmung der „Erforderlichkeit“ einer Verarbeitung personenbezogener Daten i.S.v. Art. 5, Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 9 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung das nationale Gericht nicht daran hindert, insoweit eine um‑ fassende gerichtliche Kontrolle auszuüben.

Zur Vertiefung

[Urteil] Enge Auslegung des Begriffs des berechtigten Interesses = RDV 1/2025