Aufsatz : Automatisierte Verarbeitung von Standortdaten beim Wählen des Notrufs 110 : aus der RDV 3/2024, Seite 150-154
Datenschutz zwischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung
Die Verarbeitung von Standortdaten durch die Polizei beim Anruf der 110 ist derzeit Gegenstand einer Vielzahl von Presseberichten.[1] In unterschiedlicher Detailtiefe wird beispielsweise darüber berichtet, dass „110-Notrufe […] nicht geortet werden“[2] könnten. Dies liege an der „unklaren Rechtslage in Baden-Württemberg“[3] und „Bedenken der Datenschützer“[4]. Der hiesige Beitrag beleuchtet die Hintergründe und Komplexität der rechtlichen und tatsächlichen Fragen zur Verarbeitung von Standortdaten im Zusammenhang mit dem Anwählen der 110. Dabei geht es zunächst darum, ob eine Ortung derzeit tatsächlich ausgeschlossen ist und welche neue Technologie nun Änderungen mit sich bringt. Anschließend wird der bestehende Rechtsrahmen beleuchtet und Möglichkeiten für zukünftige Regelungen aufgezeigt. Am Ende steht außer Frage, dass hier der Schutz personenbezogener Daten in Abwägung mit dem Schutz von Leib und Leben hintenansteht. Allerdings hat es der Gesetzgeber bisher versäumt, diese Abwägungsentscheidung mit Blick auf die Polizei klar zu regeln.
I. Erhebung personenbezogener Standortdaten im Notfall – Status Quo
Die Polizei hat verschiedene technische Möglichkeiten zur Erhebung von personenbezogenen Standortdaten, womit unterschiedliche Rechtsgrundlagen korrespondieren. Bekannt sind vermutlich vor allem der sog. „IMSI-Catcher“, sowie die „Stille SMS“, welche im Bereich der Strafverfolgung nach Maßgabe des § 100i Abs. 1 Nr. 2 StPO eingesetzt werden können.[5] Beiden ist gemein, dass bei bereits bestehender Kenntnis der Telefonnummer von Seiten der Polizei ein bestimmtes Telefon angesteuert, der Standort des Geräts also aktiv ermittelt wird. Eine weitere Möglichkeit zur Ermittlung des Standortes einer Person ist die Erhebung von Verkehrsdaten nach § 100g StPO, insbesondere die Ermittlung der Funkzelle, in der das jeweilige Mobilfunkgerät eingewählt ist.
Im Falle eines Notrufs steht jedoch nicht die Strafverfolgung, sondern die Gefahrenabwehr im Vordergrund. Selbst wenn in Folge des Notrufs auch Anlass für strafrechtliche Ermittlungen entsteht, so dient die Verarbeitung des Standorts der anrufenden Person zunächst der Ermöglichung von Hilfeleistung. Folglich liegt jedenfalls bei Erhebung und erstmaligen Verwendung des Datums der Schwerpunkt auf präventiven Zwecken.[6] Dass der Gesetzgeber dies auch so sieht, wird daran deutlich, wo Regelungen im Zusammenhang mit Notrufen und Datenverarbeitungen durch die Polizei geregelt sind:
In den Polizeigesetzen, beispielsweise in § 45 Abs. 1 Var. 1 PolG BW oder § 32 POG R-P. In den Polizeigesetzen finden sich darüber hinaus verschiedene Vorschriften, die die Erhebung von Standortinformationen vergleichbar mit den §§ 100g, 100i StPO erlauben. In Baden-Württemberg sind dies – unter Berücksichtigung der hiesigen Ausgangssituation eines Notrufs – die §§ 53 Abs. 1 Nr. 1 und 55 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW. Beide Vorschriften erlauben die Erhebung von Standortdaten u.a. „soweit bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine konkrete Gefahr vorliegt für Leib, Leben oder Freiheit einer Person […]“. Im Ergebnis sind somit die oben erläuterten technischen Ortungsmittel auch zum Zwecke der Gefahrenabwehr grundsätzlich erlaubt. Im Falle der Ermittlung des Aufenthaltsortes einer „vermissten, suizidgefährdeten oder hilflosen Person“ entfällt in Baden-Württemberg sogar der für Maßnahmen dieser Art vorgesehene Richtervorbehalt: Präsident/-innen der Polizeipräsidien und des Landeskriminalamts können die Maßnahme selbst anordnen oder diese Anordnungsbefugnis an bestimmte Beamte übertragen, § 53 Abs. 7 PolG BW.
II. Standortübermittlung by default: „Advanced Mobile Location“ (AML)
Advanced Mobile Location (AML) ist eine bisher durch die Polizei nicht genutzte Methode der Verarbeitung von Standortdaten im Falle eines Notrufs. In einem kürzlichen Fall hätte sie möglicherweise helfen können, eine entführte Frau schneller zu finden: Die Standortdaten, die mit den bisherigen Methoden erhoben werden konnten, seien zu ungenau gewesen, hieß es in der Presse.[7]
AML ist ein in die Smartphone-Betriebssysteme Android und iOS integrierter Dienst, der, wenn er von Herstellerseite freigeschaltet ist, beim Anwählen des Notrufs die Übertragung von Standortdaten auslöst. Die Übertragung funktioniert ohne Installation oder Aktivierung einer zusätzlichen App. Sobald der Notruf gewählt wird, ermittelt das Mobiltelefon automatisch seinen eigenen Standort und sendet diesen via SMS oder HTTPS an einen sog. „Endpunkt“. Es handelt sich folglich nicht um eine Ortung in dem Sinne, dass durch einen von der Polizei ausgelösten Prozess der Aufenthaltsort einer Person ermittelt wird, wie dies bei den o.g. Methoden der Fall ist. Viel mehr wird der Prozess durch die betroffene Person selbst ausgelöst, indem sie den Notruf wählt. Am AML-Endpunkt wird der übermittelte Standort 60 Minuten gespeichert um im Bedarfsfall abgerufen werden zu können. Bei Verwendung eines Smartphones mit einem der o.g. Betriebssysteme kann diese Funktion nicht abgestellt werden.[8]
Für die 110 hat derzeit nur die Polizei Baden-Württemberg einen AML-Endpunkt eingerichtet. Auf Anfrage leitet sie die dort vorgehaltenen Standortdaten an die zuständigen Notrufabfragestellen weiter.[9] Demnach findet derzeit eine Erhebung und kurzzeitige Speicherung der für die Notrufabfragestellen relevanten Standortdaten für das gesamte Bundesgebiet zentral bei der Polizei in Baden-Württemberg statt.
Zuständig für die Annahme von Notrufen sind in Deutschland die sog. „Notrufabfragestellen“, vgl. § 164 TKG, § 2 Abs. 2 Nr. 2 NotrufV. Jede Notrufabfragestelle ist für ein ihr zugewiesenes Einzugsgebiet zuständig. Das Gebiet der Bundesrepublik ist in Notrufursprungsbereiche gegliedert, wobei sich die Gliederungsbereiche der 110 und der 112 unterscheiden können.[10] Wählt eine Person die 110, so wird sie vom jeweiligen Telekommunikationdiensteanbieter[11] direkt an die zuständige Notrufabfragestelle durchgeleitet, § 164 Abs. 1 S. 2 TKG. Dabei müssen die Telekommunikationsdiensteanbieter auch Rufnummer und Standortdaten an diese mitübermitteln, § 164 Abs. 1 S. 3 TKG, § 4 Abs. 4 Nr. 2 NotrufV.
Gegenüber den bisherigen Ortungsmethoden hat AML den Vorteil, den jeweiligen Standort deutlich genauer bestimmen zu können. Dadurch können Personen insbesondere in unübersichtlichen räumlichen Begebenheiten schneller gefunden werden, beispielsweise in einem dicht und mehrstöckig bebauten oder weitläufigen und bewaldeten Gebiet. Die Nutzung von AML bedeutet aber auch, dass anders als in den bisherigen Konstellationen, in denen im Einzelfall und unter grundsätzlichem Richtervorbehalt Standortdaten verarbeitet werden, nunmehr bei jedem Anwählen der 110 automatisch ein personenbeziehbares Datum an einem AML-Endpunkt mindestens erhoben und kurzzeitig gespeichert sowie ggf. anschließend verwendet wird. Aus (datenschutz-)rechtlicher Sicht ist folglich entscheidend, dass für diese beiden Verarbeitungsvorgänge eine Rechtsgrundlage besteht.
III. Verarbeitungsvorgänge und mögliche Rechtsgrundlagen
Bereits in der begrifflichen Beschreibung der zur Nutzung von AML erforderlichen Datenverarbeitungen zeigt sich eine erste Schwierigkeit: Betreibt eine Behörde der Polizei BadenWürttemberg den AML-Endpunkt als eigene verantwortliche Stelle, so treten zu der Erhebung und Speicherung der Standortdaten die folgenden Verarbeitungsvorgänge hinzu: Eine Übermittlung an die zuständigen Notrufabfragestellen und die Erhebung der Daten durch diese. Die Verarbeitungsvorgänge würden sich demnach wie folgt darstellen:
In der Gesamtsystematik liegt es jedoch näher, dass die Daten am AML-Endpunkt von einem Auftragsverarbeiter für die jeweils zuständige Notrufabfragestelle verarbeitet werden. Schließlich kann ihr Zweck, die Hilfeleistung, nur durch die Notrufabfragestelle erfüllt werden. Sie sollte folglich vom Zeitpunkt der Erhebung an Verantwortlicher im datenschutzrechtlichen Sinne sein. Dass dies auch der Vorstellung des Gesetzgebers entspricht, zeigt sich im Wortlaut von § 164 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 TKG und § 4 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 NotrufV, wonach die Telekommunikationsdienstleister verpflichtet sind, den Standort der anrufenden Person an die Notrufabfragestellen zu übermitteln. Sodann würde keine Übermittlung an diese mehr stattfinden, sondern eine Verwendung der selbst gespeicherten Daten.
Demnach stellen sich die Verarbeitungsvorgänge wie folgt dar:
- (1) Automatisierte Übermittlung von Standortdaten durch das Smartphone
- (2) Automatisierte Erhebung von Standortdaten durch die zuständige Notrufabfragestelle
- (3) Kurzzeitige Speicherung von Standortdaten durch die zuständige Notrufabfragestelle
- (4) Verwendung der Standortdaten im Einzelfall durch die zuständige Notrufabfragestelle
Dass auch ohne tatsächliche Verwendung der Daten eine Rechtsgrundlage für die Erhebung und Speicherung erforderlich ist, steht außer Frage: Die Daten werden 60 Minuten für die Verwendung vorgehalten, sodass nicht von einem Verarbeitungsprozess die Rede sein kann, bei dem personenbezogene Daten „nur zufällig am Rande miterfasst […] und unmittelbar nach der Erfassung technisch wieder anonym, spurenlos und ohne Erkenntnisinteresse für die Behörden gelöscht werden“[12]. Im Übrigen hat sich das behördliche Interesse an den Daten bei ihrer Erhebung bereits hinreichend „spezifisch verdichtet“.[13] Denn ab diesem Zeitpunkt dienen sie bereits ihrem Verarbeitungszweck: Die Daten sollen für den Bedarfsfall vorgehalten werden, damit ein Verwenden schnellstmöglich erfolgen kann, wenn es die Situation erfordert. Das Vorhalten selbst ist folglich nicht ungezielt und allein technikbedingt, sondern seinerseits bereits Sinn der Maßnahme.[14]
Es stellt sich die Frage, ob für die genannten Verarbeitungsvorgänge durch die Polizei de lege lata hinreichende Rechtsgrundlagen bestehen. Zum Zwecke der Verständlichkeit wird dabei zunächst auf den Fall abgestellt, dass eine baden-württembergische Notrufabfragestelle für einen eingehenden Notruf zuständig ist. Ausgehend von dem der Ge fahrenabwehr zuzuordnenden Zweck der Verarbeitung (s.o.), finden die Verarbeitungsvorgänge im Anwendungsbereich der RL (EU) 2016/680 („JI-RL“) statt.
- Landesrecht
Denkbar ist es zunächst, die Erhebung der Standortdaten auf den o.g. § 53 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW zu stützen, sowie die anschließenden Verarbeitungsvorgänge auf die Generalklausel des § 15 Abs. 2 PolG BW. Tatbestandlich setzt § 53 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW jedoch voraus, dass „tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass eine konkrete Gefahr vorliegt“. Der Standort wird allerdings erhoben, bevor die anrufende Person Angaben machen könnte, die eine Bewertung dessen zuließe. Es kann nicht unterstellt werden, dass das Anwählen des Notrufs alleinig ein hinreichender Anhaltspunkt wäre. Schließlich wählen Menschen den Notruf beispielsweise auch wegen einer nur subjektiv als Notfall empfundenen Situation oder – leider – zum „Spaß“. Auch bei einer Unterstellung, dass ein Notruf bereits als Anhaltspunkt für eine konkrete Gefahr ausreicht, können die Voraussetzungen der Vorschrift jedoch nicht erfüllt werden: Gem. § 53 Abs. 2 PolG BW muss ein Gericht die Maßnahme erst anordnen. Zwar kann die Anordnung im Falle von Gefahr im Verzug oder von einer vermissten, suizidgefährdeten oder hilflosen Person auch durch eine andere anordnungsbefugte Person erfolgen (s.o.), jedenfalls müsste die Anordnung jedoch vor Erhebung des Standortdatums geschehen. Durch die automatisierte Übermittlung an den AML-Endpunkt könnte diese Voraussetzung nie gewahrt werden. Deutlich wird: Die Möglichkeiten des § 53 PolG BW, den Aufenthaltsort einer hilfsbedürftigen Person zu ermitteln, sind auf Einzelfallmaßnahmen ausgelegt. Hier findet jedoch eine automatisierte Erhebung (und Speicherung) statt. Damit kann die erstmalige Erhebung am AML-Endpunkt nicht auf § 53 Abs. 1 Nr. 1 PolG gestützt werden.
Da § 55 Abs. 1 S. 1 PolG BW auf § 53 PolG BW verweist, gilt für diesen nichts Anderes.
Denkbar wäre es sodann, die Erhebung auf eine Generalklausel zu stützen. § 43 Abs. 2 PolG BW erlaubt dies für Störer, § 43 Abs. 3 PolG BW auch für Nichtstörer und „soweit dies zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist“. § 43 Abs. 4 PolG BW erlaubt der Polizei darüber hinaus ganz allgemein die Erhebung von personenbezogenen Daten, „soweit dies zur Erfüllung von ihr durch andere Rechtsvorschriften übertragene Aufgaben erforderlich ist“. Mit Blick auf die Eingriffsintensität der automatisierten Verarbeitung von Standortdaten ist der Rückgriff auf eine Generalklausel jedoch bereits dem Grunde nach abzulehnen:
Das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung schützt den Einzelnen gegen informationsbezogene Maßnahmen, die für den Einzelnen weder überschaubar, noch beherrschbar sind.[15]Durch die automatisierte Erhebung und Speicherung bei jedem Anruf handelt es sich um einen breit gestreuten Eingriff in dieses Grundrecht. Alle die 110 anrufenden Personen sind von ihm betroffen. Auch haben die betroffenen Personen keine Möglichkeit der Einflussnahme auf die Verarbeitung und Genauigkeit der Information, mithin auf das „Ob“ der Verarbeitung und den Informationsumfang. Ohne Automatismus verbliebe ein Entscheidungsspielraum, der in einem Gespräch ausgeschöpft werden könnte, beispielsweise indem der eigene Standort nur grob mitgeteilt oder nur durch ein weiteres Handeln, z.B. Anklicken eines per SMS zugesandten Links, ermöglicht würde. Der Einsatz von AML zielt im Übrigen gerade darauf ab, nicht auf die Mitwirkung der betroffenen Person angewiesen zu sein. Ist dieses Ziel im Falle von hilflosen Personen, die ihren Standort nicht mitteilen können, selbstverständlich zu unterstützen, so sind jedoch durch die Art und Weise der Umsetzung auch all jene betroffen, bei denen eben dies nicht erforderlich ist. Gerade weil die betroffenen Personen keinen Einfluss auf die Verarbeitung der Standortdaten haben, sind außerdem Einschüchterungseffekte nicht zu vernachlässigen. Ist eine Person unsicher, welche Informationen über sie verarbeitet werden, so wählt sie ggf. aus Sorge um Nachteile für die eigene Person nicht den Notruf – und könnte damit eine erforderliche Hilfe für in Not befindliche Dritte gefährlich verzögern.
Der hier angestrebte automatisierte Eingriff in die Grundrechte aller anrufenden Personen, unabhängig davon, ob er im Einzelfall erforderlich ist oder nicht, „passt“ auch nicht zur Funktion einer Generalklausel: Diese liegt zwar darin, der Polizei grundsätzlich in jeder (auch unvorhergesehenen) Situation zu ermöglichen, Maßnahmen zur Abwehr der jeweiligen Gefahr zu ergreifen.[16] Grenze ihres Ermessensspielraums ist dabei allerdings der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit[17] – und eine Abwägungsentscheidung ist hier aufgrund der zeitlichen Abfolge gar nicht möglich.
Auch mit Blick auf den Willen des Gesetzgebers erscheint es fragwürdig, von der speziellen Rechtsgrundlage und ihren hohen Voraussetzungen, namentlich § 53 Abs. 1 PolG BW, nunmehr eine automatisierte Verarbeitung von Standortdaten auf Grundlage einer Generalklausel und unter wesentlichen geringeren Anforderungen für zulässig zu erachten.
Das baden-württembergische Landesrecht enthält somit de lege lata keine taugliche Rechtsgrundlage für die Verarbeitungsvorgänge der Polizei im Zusammenhang mit der Erhebung von Standortdaten im Falle der 110.
- Bundesrecht
Auf Ebene des Bundesrechts könnten die o.g. § 164 Abs. 1 S. 3 TKG und § 4 Abs. 4 Nr. 2 NotrufV einschlägig sein. In der Begründung zu § 4 NotrufV hat der Verordnungsgeber sogar klar benannt: „Abs. 6 [Anm. d. Verf.: heutiger Abs. 7] regelt die Fälle, in denen die für die Notrufverbindung genutzten Endgeräte infolge des technischen Fortschritts über genaue Standortinformationen verfügen. Diese Informationen dürfen an die Notrufabfragestelle übermittelt und dort ausgewertet werden.“[18] Allerdings kann die Vorschrift nur die in § 164 Abs. 1 TKG genannten Stellen verpflichten und berechtigen. Dies sind diejenigen Stellen, die öffentlich zugängliche nummerngebundene interpersonelle Telekommunikationsdienste für das Führen von ausgehenden Gesprächen zu einer oder mehreren Nummern des nationalen oder internationalen Nummernplans erbringen, den Zugang zu solchen Diensten ermöglichen oder Telekommunikationsnetze betreiben, die für diese Dienste einschließlich der Durchleitung von Anrufen genutzt werden. Behörden der Polizei sind keine solche Stellen.
Zwar ist es grundsätzlich zulässig, im Sinne des „Doppeltürmodells“ beide „Türen“ in einer Rechtsgrundlage zu regeln. Allerdings sind dabei die Kompetenzordnung und die Anforderungen an die Normenklarheit zu wahren.[19] Der Wortlaut von § 164 TKG und § 4 NotrufV erfasst die Verarbeitungsvorgänge der Notrufabfragestellen nicht. Auch wären sie als Verarbeitungsvorgänge durch die Polizei zum Zwecke der Gefahrenabwehr im Regelungsregime des Telekommunikationsrechts systemfremd (vgl. auch § 483 Abs. 3 StPO und § 11 Abs. 3 PolG BW). Nicht zuletzt schließt die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern die Regulierung der Verarbeitungsvorgänge der Polizeien zum Zwecke der Gefahrenabwehr im TKG aus: Grundrechtseingriffe dieser Art müssten durch den Landesgesetzgeber geregelt werden, Art. 70 Abs. 1 GG.
Das Bundesrecht enthält somit de lege lata keine taugliche Rechtsgrundlage für die Verarbeitungsvorgänge der Polizei im Zusammenhang mit der Erhebung von Standortdaten im Falle der 110.
Zur Komplexität der Rechtslage kommt im Übrigen hinzu, dass § 164 TKG und § 4 NotrufV auch technische Regelungsvorgaben machen, s. insb. § 4 Abs. 4 S. 3 NotrufV: „Die technischen Verfahren für die Übermittlung dieser Daten [Anm. d. Verf.: der Standortdaten, zu deren Mit-Übermittlung die Anbieter verpflichtet sind] werden in der Technischen Richtlinie nach § 6 festgelegt.“ Dieser Bereich wird jedoch in diesem Beitrag ausgeklammert.
- Unionsrecht
Dass Standortdaten im Falle von Notrufen verfügbar gemacht werden sollen, hat auch der Unionsgesetzgeber in verschiedenen Rechtsakten vorgesehen, s. Art. 109 Abs. 6 und ErwG 290 RL (EU) 2018/1972 (früher: s. auch Art. 26 Abs. 3 und EG 36 S. 3 und 4 RL (EG) 2002/22, sog. „Universaldiensterichtlinie“), wonach die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass der am besten geeigneten Notrufabfragestelle nach Herstellung der Notrufverbindung unverzüglich Informationen zum Anruferstandort bereitgestellt werden. Dies solle „im Einklang mit den einschlägigen Unionsvorschriften über die Verarbeitung personenbezogener Daten und Sicherheitsmaßnahmen erfolgen“. Auch Art. 1 sowie ErwG 5 und 11 Delegierte Verordnung (EU) 2019/320 und Art. 3 Abs. 3 Buchst. g) RL (EU) 2014/53 verweisen auf verpflichtende technische Funktionen verschiedener Geräte, die der Verfügbarkeit von Standortdaten im Falle von Notrufen dienen. Da es sich jedoch um Richtlinien handelt, können diese Vorschriften nicht unmittelbar herangezogen werden. Dies ist auch nicht deshalb anders, weil die Umsetzungsfrist der Richtlinien bereits abgelaufen ist. Zwar können einzelne Vorschriften von Richtlinien unter diesen Umständen unmittelbare Wirkung entfalten.[20] Allerdings fehlt es im hiesigen Fall an der inhaltlichen Genauigkeit der Richtlinienvorschriften. Zunächst beziehen sie sich ihrem Wortlaut nach nur auf die europäische Notrufnummer der 112, im hiesigen Beitrag geht es jedoch um die nationale Notrufnummer 110. Auch handelt es sich bei den genannten Unionsvorschriften ausschließlich um solche auf dem Regelungsgebiet des Telekommunikationsrechts. Es mangelt folglich an einer inhaltlichen Genauigkeit[21] der in Rede stehenden Vorschriften mit Blick auf die spezifische Abwägung betroffener Grundrechte und verfolgter Zwecke durch Polizeibehörden.
Das Unionsrecht enthält somit de lege lata keine taugliche Rechtsgrundlage für die Verarbeitungsvorgänge der Polizei im Zusammenhang mit der Erhebung von Standortdaten im Falle der 110.
An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass der EuGH vor erst fünf Jahren über einen tragischen Fall im Zusammenhang mit der Erhebung von Standortdaten im Falle eines Notrufs entschieden hat.[22] Im September 2013 hatte ein Entführungsopfer ein dutzend Mal versucht, einen Hilferuf an das zuständige Notfallzentrum in Litauen zu senden. Den Bediensteten vor Ort wurde jedoch die Telefonnummer der Anruferin nicht angezeigt, sodass sie deren Standort nicht ermitteln und die Anruferin nicht retten konnten. Der Gerichtshof hielt in seiner Entscheidung daran fest, dass die Universaldiensterichtlinie „den Mitgliedstaaten unter der Voraussetzung der technischen Durchführbarkeit eine Erfolgspflicht auferlegt, die sich nicht auf die Einrichtung eines angemessenen Rechtsrahmens beschränkt, sondern verlangt, dass die Informationen zum Standort aller Anrufer der Nummer 112 tatsächlich den Notdiensten übermittelt werden“. Im Falle von AML verhält es sich nunmehr andersherum: Es besteht eine technische Möglichkeit, die Standortdaten präzise zu erheben, bisher wurde allerdings die Einrichtung eines angemessenen Rechtsrahmens durch den Gesetzgeber versäumt. Dies gilt i.Ü. nicht nur für den baden-württembergischen Gesetzgeber. Rechtsgrundlagen für die automatisierte Erhebung und Speicherung sowie Verwendung im Einzelfall, wie hier dargelegt, sind auch aus anderen Bundesländern nicht bekannt.
IV. Lösungsansätze de lege ferenda
Angesichts des komplexen Zusammenspiels aus Unions-, Bundes- und Landesrecht und der zugleich bundesweit gleichartigen Betroffenheit aller den Notruf wählenden Personen ist zunächst festzuhalten, dass eine einheitliche Lösung aller Länder angestrebt werden sollte, bspw. durch eine staatsvertragliche Regelung.
Wie bereits oben dargelegt entspricht es dem Zweck der angestrebten Datenverarbeitung, sie der Verantwortlichkeit der jeweils zuständigen Notrufabfragestelle zuzuordnen. Demnach sollte zunächst eine einheitliche Rechtsgrundlage für die automatisierte Erhebung und Speicherung sowie Verwendung im Einzelfall der Standortdaten durch die Notrufabfragestellen getroffen werden. Diejenige Stelle, welche die Daten für die zuständigen Notrufabfragestellen verarbeitet, sollte mit der Verarbeitung keine eigenen Zwecke verfolgen dürfen, sondern ausschließlich als Auftragsverarbeiter tätig sein. Hierbei sollte zudem bedacht werden, dass weitere Auftragsverarbeiter aus Gründen der Datensicherheit als Redundanzen hinzu kommen könnten. Diese Auftragsverarbeiter könnten auch in anderen Bundesländern angesiedelt werden.[23]
Angesichts des Legalitätsprinzips, wonach die Ermittlungsbehörden im Falle von Anhaltspunkten für eine Straftat zu Ermittlungen verpflichtet sind, §§ 152 Abs. 2, 160, 163 StPO, sollte der Gesetzgeber zudem entscheiden, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen die Standortdaten auch zur Strafverfolgung verwendet werden dürfen. Denkbar wäre es beispielsweise, die zweckändernde Nutzung nur unter Richtervorbehalt und im Falle von Straftaten i.S.d. § 100a Abs. 2 StPO zu erlauben, ähnlich wie dies in § 100i StPO vorgesehen ist.
V. Fazit
Mit Blick auf AML bei der Notrufnummer 110 zeigt sich ein komplexes Zusammenspiel von Regelungen auf landes-, bundes- und europarechtlicher Ebene. Die Gesetzgeber sind gehalten, innerhalb ihrer Kompetenzen die Weichen dafür zu stellen, dass Standortdaten im Falle eines Notrufs rechtssicher erhoben, gespeichert und verwendet werden dürfen, damit hilfebedürftigen Personen schnell geholfen werden kann und die Freiheit aller geschützt bleibt.
Prof. Dr. iur. Tobias Keber
Landesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Baden-Württemberg
Julia Ahrens
ist Referentin beim Landesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Baden-Württemberg.
[1] S. bspw. https://www.zeit.de/news/2024-03/18/streit-um-110-datenschuetzer-wollen-notruf-ortung-erlauben (zuletzt abgerufen am 10.04.2024); https://www.heise.de/news/Streit-um-110-Datenschuetzer-erlauben-bundesweite-Notruf-Ortung-9659860.html (zuletzt abgerufen am 10.04.2024)
[2]https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/110-Notrufe-im-Norden-koennen-nicht-geortet-werden,polizeinotrufe100.html (zuletzt abgerufen am 10.04.2024).
[3]https://www1.wdr.de/nachrichten/notruf-polizei-110-datenschutz-ortunggps-innenminiusterium-datenschuetzer-ortungsdaten-100.html (zuletzt abgerufen am 10.04.2024).
[4] Ebd.
[5] Vgl. Müller/Schwabenhauer, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, G. Informationsverarbeitung im Polizei und Strafverfahrensrecht, Rn. 755 ff.; BGH, Beschl. v. 08.02.2018 – 3 StR 400/17.
[6] Für die sog. „Schwerpunkttheorie“ von doppelfunktionalen Maßnahmen s. bspw. Graulich, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, E. Das Handeln von Polizei- und Ordnungsbehörden zur Gefahrenabwehr, Rn. 178
[7] Vgl. https://www.shz.de/deutschland-welt/schleswig-holstein/artikel/polizei-kann-notrufe-in-schleswig-holstein-nicht-orten-46631721 (zuletzt abgerufen am 10.04.2024).
[8] Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 17/6411; s. auch: https://www. heise.de/hintergrund/Notruf-112-So-ortet-die-Leitstelle-Ihr-Mobiltelefon-7490400.html (zuletzt abgerufen am 10. April 2024). 9 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 17/6411, S. 4.
[9] Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 17/6411, S. 4
[10] Nr. 4.1 ff. und Nr. 7.1.3 ff. Technische Richtlinie Notrufverbindungen (TR Notruf).
[11] Aus Gründen der Leserlichkeit sind mit „Telekommunikationsdienstleister“ hier und im Folgenden die in § 164 Abs. 1 S. 1 und S. 2 TKG genannten Verpflichteten gemeint.
[12] Vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.12.2018 – 1 BvR 142/15; NJW 2019, 827-842, Rn. 48 ff.
[13] Vgl. ebd. Rn. 49.
[14] Vgl. ebd. Rn. 50
[15] Ebd. Rn. 97.
[16] BeckOK Polizeirecht Baden-Württemberg, Möstl/Trurnit, 31. Edition, Systematische und begriffliche Vorbemerkungen zum Polizeirecht in Deutschland, Rn. 99
[17] BeckOK Polizeirecht Baden-Württemberg, Möstl/Trurnit, 31. Edition, § 3, Rn. 17, 18
[18] BR-Drs. 967/08, S. 18.
[19] BVerfG, Beschl. v. 24.01. 2012 − 1 BvR 1299/05; NJW 2012, 1419, Rn. 123.
[20] Vgl. EuGH, Urt. v. 19.01.1982 – Rs 8/81; Schroeder, in: Streinz, EUV, AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288, Rn. 91.
[21] EuGH, Urt. v. 04.12.1974 – 41/74, Rn. 12.
[22] EuGH, Urt. v. 05.09.2019 – C-417/18.
[23] Für die 112 befindet sich beispielsweise ein AML-Endpunkt in Berlin und ein weiterer in Freiburg, s. https://ils-freiburg.de/standortdaten.php (zuletzt abgerufen am 15.04.2024).