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Kurzbeitrag : Künstlich intelligente Strafverfolgung – Warum das Legalitätsprinzip den Einsatz von KI erzwingt : aus der RDV 1/2025, Seite 39 bis 41

Das ifo-Institut und die F.A.Z. haben Anfang Mai 2024 das Ergebnis einer Befragung von 180 VWL-Professorinnen und Professoren zur Lage des Wirtschaftsstandorts Deutschland veröffentlicht. In der Gesamtnote erhält Deutschland eine nur befriedigende Schulnote von 3,4. Dabei äußerten die Befragten vielfach die Sorge, dass die Substanz zunehmend erodiere und der Standort Deutschland an Attraktivität verliere. Als Gründe genannt werden die umfassende Bürokratie, fehlende öffentliche Investitionen, der Mangel an Fachkräften, hohe Energiepreise und mangelhafte Digitalisierung. Aus Sicht des Rechtspraktikers besonders interessant ist der Befund, dass demgegenüber das hohe Maß an Rechtssicherheit als ein wesentlicher positiver Umstand angeführt wird.

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Rechtssicherheit auf den Bereich der Strafverfolgung – und darum soll es hier ausschließlich gehen – heruntergebrochen, heißt unter anderem, dass derjenige, der eine substanziierte Strafanzeige stellt, sich darauf verlassen kann, dass die Staatsanwaltschaft der Anzeige effektiv nachgeht, den Sachverhalt, wie es § 160 StPO vorsieht, erforscht und verpflichtet ist, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern dafür zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.[2] Es hängt weder von der persönlichen Bereitschaft des Staatsanwalts ab, ob ermittelt wird[3], noch von den für die Aufklärung des Sachverhalts zur Verfügung stehenden Ressourcen.[4]

Das ist im Kern der Gedanke des Legalitätsprinzips: Die Staatsanwaltschaft muss bei einem Anfangsverdacht einschreiten und bei hinreichendem Tatverdacht – sofern nicht die gesetzlich normierten Ausnahmen etwa aus den in §§ 153 ff. StPO normierten Opportunitätsgründen greifen – Anklage erheben. Das Bundesverfassungsgericht sieht das Legalitätsprinzip im Rechtsstaatsprinzip verankert.[5] Es ist damit für das Strafrecht eine wesentliche Ausprägung der Rechtssicherheit[6], denn sämtlichen Verdachtsfällen ist ohne Ansehung der Person und ohne Rücksicht auf äußere Einflüsse nachzugehen.[7] Unerheblich sind daher auch eigene Strafwürdigkeitserwägungen der Strafverfolger. Entscheidend ist vielmehr die Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers über die Strafbarkeiten und deren Ausformung durch die Gerichte. Für die Strafverfolgungsbehörden ist damit eine substanzielle Aufklärungsanstrengung obligatorisch.[8]

Rechtssicherheit ist aber keine rein dogmatische Begrifflichkeit. Entscheidend ist vielmehr, ob und in welchem Maße das Legalitätsprinzip in der Wirklichkeit der Ermittlungsverfahren umgesetzt wird. Hier sind in der Vergangenheit viele unterschiedliche Fallgruppen diskutiert worden. In der Verfolgung der organisierten Schwerkriminalität wird mitunter die Ermittlung zu einzelnen Straftaten zurückgestellt, um den Gesamtzusammenhang einer kriminellen Organisation wirksam aufklären zu können und verdeckte Ermittlungen zu schützen.[9] Im Bereich der Wirtschaftskriminalität ist der Deal, d.h. das Aushandeln des Ausgangs eines Ermittlungsbzw. Strafverfahrens ein Instrument zur Eingrenzung des Ermittlungsaufwands.[10] Das tatsächliche Hauptmotiv solcher – wohlmeinend formuliert – Flexibilisierungen des Ermittlungsvorgehens ist oft jedoch die Orientierung an den faktisch für die Strafverfolgung zur Verfügung stehenden Ressourcen im Sinne eines wirtschaftlichen Mitteleinsatzes.[11] Eine unmittelbare Rechtsgrundlage für diesen Gedanken ergibt sich aus der Strafprozessordnung nicht. Diese beschränkt sich vielmehr auf einen abschließenden Katalog von Ausnahmen und Durchbrechungen, der einer generalisierenden Herleitung übergreifender Prinzipien nicht zugänglich ist.[12] Wenn das Legalitätsprinzip aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleiten ist, dürfte es vielmehr Aufgabe des Haushaltsgesetzgebers sein, die für seine Einhaltung erforderlichen Ressourcen den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung zu stellen.[13]

Allein der Ruf nach einem Mehr – mehr Polizistinnen und Polizisten, mehr Staatsanwältinnen und Staatsanwälte – ist jedoch zu kurz gegriffen. Denn bei aller Begeisterung über einen sinnvollen und nötigen Personalaufwuchs skaliert dieser schlecht. Es ist zu aller erst die Frage zu stellen, ob die Betriebsorganisation der Strafverfolgungsbehörden den Ansprüchen des Legalitätsprinzips hinreichend Rechnung trägt. Anders formuliert: Eine geänderte, zunehmend digitale Wirklichkeit muss auch in den Ermittlungsbehörden weiträumig rezipiert werden.

Besonders deutlich wird dies in den internetkonnexen Kriminalitätsfeldern. Der Endgegner des Legalitätsprinzips im Bereich etwa von Straftaten des 13. Abschnitts des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs ist nicht die durch die Digitalisierung hervorgerufene Komplexität der forensischen Betrachtung des einzelnen Falls. Hier haben die Strafverfolgungsbehörden durch die Einrichtung von spezialisierten Kommissariaten, CybercrimeKriminalinspektionen[14] und spezialisierten Task Forces bei den Staatsanwaltschaften die Voraussetzungen für wirksame Ermittlungen geschaffen. Der Fokus auf die Einhaltung des Legalitätsprinzips in einem konkreten Verfahren blendet oftmals jedoch die Perspektive des Legalitätsprinzips in Bezug auf alle zu einem Zeitpunkt anhängigen Verfahren aus. Die Strafverfolgung hat kein Qualitäts-, wohl aber ein Quantitätsproblem.

Dieses lässt sich ganz konkret fassen: Bei Ermittlungen wegen des Verdachts der Verbreitung und des Besitzes kinderpornografischer Inhalte fördert jede Durchsuchung eine Vielzahl digitaler Beweismittel zu Tage, deren Auswertung regelmäßig Hinweise auf umfangreiche Kommunikationsgeflechte ergeben, denen nachzugehen ist. Internetkonnexe Straftaten sind datengetrieben. Die umfassende, dem Legalitätsprinzip genügende Auswertung potenziert die relevanten tatsächlichen Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen. Je besser, je genauer die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden ausfällt, je mehr neue Fälle werden bekannt. Die Strafverfolgung erstickt an ihrem eigenen Erfolg.

Dies gilt nicht nur für die Fälle des Kindesmissbrauchs und der entsprechenden Darstellungen. Wirtschaftskriminalität ist ebenso ein datengetriebenes Deliktsfeld. Steuerstraftaten sind durch die Durchsicht schriftlicher Unterlagen weit schlechter aufzuklären, als durch die aggregierte Verdichtung relevanter Datenpunkte. Im Bereich der organisierten Kriminalität hat die Aufklärung relevanter Messengerdienste wie „EncroChat“[15] die besondere Bedeutung digitaler, datenorientierter Ermittlungen sehr deutlich gemacht.

Wenn die Strafverfolgung dem Anspruch des Legalitätsprinzips aktuell und vor allem mittel- bis langfristig gerecht werden will, wenn sie ihrer zentralen Rolle für die Rechtssicherheit genügen soll, geht kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass der Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Automatisierung nicht fakultativ, kein „nice to have“ ist. Die Strafverfolgung muss KI & Co. einsetzen, um ihrem Auftrag von Verfassungs wegen nachzukommen.

Gegenwärtig sind vor allem drei Bereiche zu nennen:

  1. Die Strafverfolgung muss den Kontakt zu ihren Kunden verbessern. Wer heute mit offenen Augen die Webseiten der Staatsanwaltschaften besucht, findet viel zu oft Faxnummern und viel zu selten KI-unterstützte Assistenten vor, die Rechtsuchende qualitätssichernd durch einfache Justizkontakte wie die Erstattung einer Strafanzeige oder die Einholung einer Besuchserlaubnis für Angehörige eines Untersuchungsgefangenen führen. Hier wird sehr viel Potenzial in Bezug auf die Kundenzufriedenheit verschenkt.
  2. Die Auswertung digitaler Beweismittel muss umfassend und wo immer möglich abschließend automatisch und KI-gestützt durchgeführt werden. Nur so lassen sich die erforderlichen Effizienzgewinne erzielen. KI ist nie fehlerfrei. Die Sorge darum, ob 90 % oder 95 % aller beweisrelevanten Daten in einem Datenbestand durch die KI erkannt werden, darf jedoch – völlig unabhängig davon, dass auch die manuelle menschliche Auswertung kaum fehlerfreier sein dürfte – nicht den Blick darauf verstellen, dass der Kampf um den letzten Prozentpunkt in einem Verfahren bei endlichen Ressourcen zwingend bedeutet, eine Vielzahl von Verfahren zeitgleich überhaupt nicht bearbeiten zu können.

In diesem Bereich ist in der jüngeren Zeit schon viel bewegt worden. Polizeiliche und justizielle Arbeitsgruppen haben etwa im Bereich der Kindesmissbrauchsdarstellungen Fallgruppen für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz diskutiert, die einer weitgehenden Automatisierung zugänglich sind. In der ZAC NRW ist ein Team von KI-Entwicklern und Juristen damit befasst, eigene Künstliche Intelligenzen für eine Vielzahl von konkreten Anwendungsfällen zu trainieren. Gleiches gilt für polizeiliche Einrichtungen. Auch wenn diese Entwicklungen zuversichtlich stimmen, wird es mit Blick auf die Komplexität der Materie eines erheblichen Einsatzes von Ressourcen bedürfen, die Technologien umfassend praxisreif zu machen.

  1. KI und Automatisierung müssen als Unterstützung der staatsanwaltlichen, auch der richterlichen Entscheidung in Betracht gezogen werden. Eine ehrliche Betrachtung der in einer Staatsanwaltschaft regelmäßig zu bearbeitenden Sachverhalte offenbart, dass insbesondere im Bereich der sogenannten Bagatellkriminalität viele Fallgestaltungen automatisch vorverfügt werden können. Vielleicht lohnt es, die Debatten rund um die Verfolgung von Straftaten wie Beförderungserschleichung[16] oder „Ladendiebstahl“ weniger rechtlich als technologisch zu betrachten. Entscheidend ist weniger die Einstufung als Ordnungswidrigkeit oder als Straftat, sondern vielmehr, dass solche Massensachverhalte effizient bearbeitet werden können. Damit kann die Strafverfolgung wertvolle und in Zeiten des demografischen Wandels zunehmend knappe Ressourcen für die tatsächlichen juristischen Kernaufgaben freistellen.

Es bleibt eine wesentliche Frage: Dürfen wir das? Sicher ist auf Basis nationalen und europäischen Rechts, dass die menschliche Entscheidung durch eine KI nicht ersetzt werden darf.[17] Unterhalb des entscheidungsersetzenden Einsatzes besteht jedoch ein breites Spektrum an technisch möglichen und rechtlich zulässigen Anwendungsfällen. Dies zeigt nicht zuletzt der Blick in die aktuelle europäische KI-Regulierung auf: Die grundsätzliche Aufnahme der Anwendungsfälle der Strafverfolgung in den Katalog des Anhangs III KI-VO macht deutlich, dass der Einsatz von KI in der Strafverfolgung ein – wenngleich im Einzelfall (im Sinne der KI-VO) hochriskantes – grundsätzlich zulässiges Szenario ist.[18]

KI in der Strafjustiz ist kein Selbstläufer und auch nicht risikolos. Die Strafverfolgung muss sich öffnen für den Dialog mit Wissenschaft und Wirtschaft, um die technologischen Kompetenzen zu gewinnen und eine kritische Begleitung zu ermöglichen. Wo immer möglich sollten Entwicklungen als Open Source veröffentlicht werden, damit Kontrolle durch die Fachwelt möglich wird. Die Justiz benötigt fachlich qualifizierte Bedienstete – und damit möglicherweise auch ganz neue Berufsbilder. Der Gesamtprozess der sinnvollen Implementierung von KI erfordert Geld und politische Unterstützung. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Eines ist jedoch schon jetzt deutlich: Ohne diese Ausprägungen eines festen Willens zur technologischen Veränderung wird die Strafverfolgung ihren gesetzlichen Auftrag schon in absehbarer Zeit nicht mehr erfüllen können.

* Markus Hartmann ist Leitender Oberstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft in Köln und Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW). Der Beitrag fasst seine Thesen für das Symposium der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit zum Thema „Automatisierte Datenanalyse und KI – Innovative Polizeiarbeit mit Diskriminierungspotenzial?“ am 12.09.2024 in Berlin zusammen.

[1]Https://www.ifo.de/fakten/2024-05-03/oekonomenpanel-reformvorschlaege-fuer-deutschland.

[2] KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, StPO §  152 Rn.  4; MüKoStPO/Kölbel/Ibold, 2. Aufl. 2024, StPO § 160 Rn. 32.

[3] MüKoStPO/Kölbel/Ibold, 2. Aufl. 2024, StPO § 160 Rn. 31 f

[4] KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, StPO § 152 Rn. 4.

[5] KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, StPO §  152 Rn.  3. BVerfG 2 BvR 8/82=NStZ 1982, 430.

[6] HK-GS/Thilo Pfordte, 5. Aufl. 2022, StPO § 152 Rn. 1.

[7] MüKoStPO/Kölbel/Ibold, 2. Aufl. 2024, StPO § 160 Rn. 31.

[8] MüKoStPO/Kölbel/Ibold, 2. Aufl. 2024, StPO § 160 Rn. 31.

[9] Vgl. Abschnitt II. 2. 6 des Gem.RdErl. d. Justizministeriums NRW u.d. Innenministeriums NRW v. 17.02.1986 zur Verfolgung von Straftaten – Inanspruchnahme von Informanten, Einsatz von V-Personen und Verdeckten Ermittlern und sonstigen nicht offen ermittelnden Polizeibeamten.

[10] Nestler, JA 2012, 88, 95.

[11] Übersicht zur Diskussion bei Nestler JA 2012, 88 ff

[12] MüKoStPO/Kölbel/Ibold, 2. Aufl. 2024, StPO § 160 Rn. 43.

[13] KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, StPO § 152 Rn. 4.

[14] Vgl. für die Polizei NRW https://www.land.nrw/pressemitteilung/mehr-polizei-im-netz-cybercrime-kriminalinspektionen-gehen-den-start.

[15] Übersicht zum Thema bei Gebhard/Michalke, NJW 2022, 655 ff.

[16] Vgl. https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/schwarzfahren-straftat-ordnungswidrigkeit-reform-vorschlag.

[17] Hartmann, RDV 2023, 300 ff.

[18] Schwartmann/Keber/Zenner/Benedikt/Hartmann, KI-VO-Leitfaden, 2. Teil 1. Kap. Rn. 236.