Urteil : Geschlechtsangabe muss beim Kauf eines Bahn-Tickets freiwillig erfolgen : aus der RDV 2/2025, Seite 102 bis 105
(EuGH, Urteil vom 9. Januar 2025 – C 394/23 –)
Relevanz für die Praxis
Der EuGH hat in dem vorliegenden Urteil bestimmt, dass die Geschlechtsabfrage durch einen Transportdienstleister beim Kauf eines Tickets nicht i.S.d. DS‑GVO erforderlich ist. Die erzwungene Abfrage kann weder über Art. 6 Abs. 1 lit. a) noch lit. f) DS‑GVO gerechtfertigt werden. Das Interesse, die Kundensanprache anhand des Geschlechts zu personalisieren, genügt für eine Erforderlichkeit nicht, da das Unternehmen den Weg einer geschlechtsneutralen Ansprache wählen kann. Dasselbe gilt für den Zweck der kommerziellen Direktwerbung. Diese kann zwar ein legitimes Interesse des Transportunternehmers darstellen, im Rahmen der Interssenabwägung überwiegt jedoch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Kunden.
Das Urteil entfaltet nicht nur Relevanz für Transportdienstleister, sondern ist auch auf andere Unternehmen übertragbar. Unternehmen sollten daher, wenn sie datenschutzrechtlich auf Nummer sicher gehen wollen, ihre Abfragemasken kontrollieren und die Gechlechtsangabe zur freiwilligen Angabe machen. Eine abweichen‑ de Beurteilung ist jedoch je nach Fall möglich. Dies gilt bspw. dann, wenn die angebotene Leistung tatsächlich einen Geschlechtsbezug hat, wie es etwa bei der Buchung von Schlafwagen der Fall ist, die abhängig vom Geschlecht eingeteilt werden.
1. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b) und f) i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. c) der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ist dahin auszulegen, dass
- die Verarbeitung personenbezogener Daten hinsichtlich der Anrede der Kunden eines Transportunternehmens, die darauf abzielt, die geschäftliche Kommunikation aufgrund ihrer Geschlechtsidentität zu personalisieren, weder objektiv unerlässlich noch wesentlich für die ordnungsgemäße Erfüllung eines Vertrags erscheint und daher nicht als für die Erfüllung dieses Vertrags erforderlich angesehen werden kann;
- die Verarbeitung personenbezogener Daten hinsichtlich der Anrede der Kunden eines Transportunternehmens, die darauf abzielt, die geschäftliche Kommunikation aufgrund ihrer Geschlechtsidentität zu personalisieren, nicht als zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen dieser Verarbeitung oder eines Dritten erforderlich angesehen werden kann, wenn
- diesen Kunden bei der Erhebung dieser Daten nicht das verfolgte berechtigte Interesse mitgeteilt wurde; oder
- diese Verarbeitung nicht innerhalb der Grenzen dessen erfolgt, was zur Verwirklichung dieses berechtigten Interesses unbedingt notwendig ist; oder
- in Anbetracht aller relevanten Umstände die Grundrechte und Grundfreiheiten dieser Kunden gegenüber diesem berechtigten Interesse überwiegen können, insbesondere wegen der Gefahr einer Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität.
2. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. f) der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass bei der Beurteilung der Erforderlichkeit einer Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne dieser Bestimmung nicht zu berücksichtigen ist, dass die betroffene Person möglicherweise nach Art. 21 DS-GVO ein Widerspruchsrecht hat.
Zu den Vorlagefragen:
Zur ersten Frage:
[… ]
Zu Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b) DS-GVO
Nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b) DS‑GVO ist eine Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig, wenn sie „für die Erfüllung eines Vertrags, dessen Vertragspartei die betroffene Person ist, oder zur Durchführung vorvertraglicher Maßnahmen erforderlich [ist], die auf Anfrage der betroffenen Person erfolgen“.
Damit eine Verarbeitung personenbezogener Daten als für die Erfüllung eines Vertrags erforderlich im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, muss sie objektiv unerlässlich sein, um einen Zweck zu verwirklichen, der notwendiger Bestandteil der für die betroffene Person bestimmten Vertragsleistung ist. Der Verantwortliche dieser Verarbeitung muss somit nachweisen können, inwiefern der Hauptgegenstand dieses Vertrags ohne diese Verarbeitung nicht erfüllt werden könnte (Urt. v. 12.09.2024, HTB Neunte Immobilien Portfolio und Ökorenta Neue Energien Ökostabil IV, C‑17/22 und C‑18/22, EU:C:2024:738, Rn. 43 und die dort an‑ geführte Rechtsprechung).
Der etwaige Umstand, dass eine solche Verarbeitung im Vertrag erwähnt wird oder für dessen Erfüllung lediglich von Nutzen ist, ist insoweit für sich genommen unerheblich. Entscheidend für die Anwendung des in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b) DS‑GVO genannten Rechtfertigungsgrundes ist nämlich, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten durch den Verantwortlichen für die ordnungsgemäße Erfüllung des zwischen ihm und der betroffenen Person geschlossenen Vertrags wesentlich ist und dass daher keine praktikablen und weniger einschneidenden Alternativen bestehen (Urt. v. 12.09.2024, HTB Neunte Immobilien Portfolio und Ökorenta Neue Energien Ökostabil IV, C‑17/22 und C‑18/22, EU:C:2024:738, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
In diesem Zusammenhang ist im Fall eines Vertrags, der mehrere Dienstleistungen oder mehrere eigenständige Elemente einer Dienstleistung umfasst, die unabhängig voneinander erbracht werden können, die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b) DS‑GVO für jede dieser Dienstleistungen gesondert zu beurteilen (Urt. v. 04.07.2023, Meta Platforms u.a. [Allgemeine Nutzungsbedingungen eines sozialen Netzwerks], C‑252/21, EU:C:2023:537, Rn. 100).
Im vorliegenden Fall steht fest, dass Hauptgegenstand des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrags die Erbringung einer Schienentransportdienstleistung für die Kunden ist. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts zielt die Verarbeitung der im Ausgangsverfahren in Rede stehen‑ den Daten darauf ab, die geschäftliche Kommunikation mit dem Kunden in Übereinstimmung mit der allgemeinen Verkehrssitte in diesem Bereich zu personalisieren.
Wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, kann die geschäftliche Kommunikation ein Zweck sein, der notwendiger Bestandteil der betreffenden vertraglichen Leistung ist, da die Erbringung einer solchen Schienentransportdienstleistung grundsätzlich die Kommunikation mit dem Kunden voraussetzt, insbesondere um ihm elektronisch einen Fahrschein zu übermitteln, ihn über mögliche Änderungen der entsprechenden Reise zu informieren und den Austausch mit dem Kundendienst zu ermöglichen. Diese Kommunikation kann die Beachtung der allgemeinen Verkehrssitte erfordern und insbesondere Höflichkeitsformeln enthalten, um den Respekt des betreffenden Unternehmens gegenüber seinem Kunden zum Ausdruck zu bringen und da‑ durch das Markenimage dieses Unternehmens zu schützen.
Eine solche Kommunikation muss jedoch nicht notwendigerweise anhand der Geschlechtsidentität des betreffenden Kunden personalisiert werden. Nach der Rechtsprechung er‑ scheint die Personalisierung von Inhalten nämlich nicht erforderlich, um einem Kunden Dienste anzubieten, wenn diese Dienste gegebenenfalls in Form einer gleichwertigen Alter‑ native an ihn erbracht werden können, die nicht mit einer solchen Personalisierung verbunden ist, so dass diese nicht objektiv unerlässlich ist, um einen Zweck zu verwirklichen, der notwendiger Bestandteil dieser Dienste ist (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 04.07.2023, Meta Platforms u.a. [Allgemeine Nutzungsbedingungen eines sozialen Netzwerks], C‑252/21, EU:C:2023:537, Rn. 102).
Was die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dienstleistungen betrifft, erscheint eine Personalisierung der geschäftlichen Kommunikation, die auf einer anhand der Anrede angenommenen Geschlechtsidentität beruht, weder objektiv unerlässlich noch wesentlich, um die ordnungsgemäße Erfüllung des betreffenden Vertrags im Sinne der in den Rn. 33 und 34 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zu ermöglichen.
Es scheint nämlich eine praktikable und weniger ein‑ schneidende Lösung zu geben, da sich das betreffende Unter‑ nehmen – sei es gegenüber Kunden, die ihre Anrede nicht angeben möchten, sei es generell – für eine Kommunikation entscheiden könnte, die auf allgemeinen und inklusiven Höflichkeitsformeln beruht, die in keinem Zusammenhang mit der angenommenen Geschlechtsidentität dieser Kunden stehen. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 49 und 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, verwendet SNCF Connect zu‑ dem offenbar bereits solche Formeln, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, und hätte die Angabe einer unzutreffenden Anrede darüber hinaus keine Auswirkung auf die Erbringung der betreffenden Beförderungsdienstleistungen, was bestätigen würde, dass die Verarbeitung der im Ausgangs‑ verfahren in Rede stehenden Daten nicht objektiv unerlässlich ist, um den Hauptgegenstand des Vertrags zu erfüllen.
In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass SNCF Connect in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, dass die Verarbeitung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Daten einen zweiten Zweck verfolge, nämlich die Anpassung der Beförderungsdienstleistungen an Nachtzüge mit Waggons, die für Personen mit derselben Geschlechtsidentität reserviert seien, und an die Unterstützung von Fahrgästen mit einer Behinderung. Dieser Zweck der Anpassung der Beförderungsdienstleistungen könne es erforderlich machen, die Geschlechtsidentität der betroffenen Kunden zu kennen.
Dieser zweite Zweck kann jedoch nicht die systematische und allgemeine Verarbeitung der Anrededaten aller Kunden des betreffenden Unternehmens, einschließlich der Kunden, die tagsüber reisen oder keine Behinderung haben, rechtfertigen. Eine solche Verarbeitung wäre nämlich unverhältnismäßig und verstieße damit gegen den in Rn. 24 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsatz der Datenminimierung, da sie sich auf die Daten zur Geschlechtsidentität nur der Kunden beschränken könnte, die mit dem Nachtzug reisen oder aufgrund ihrer Behinderung persönliche Hilfe in Anspruch nehmen möchten.
Somit ist Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b) i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. c) DS‑GVO dahin auszulegen, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten hinsichtlich der Anrede der Kunden eines Transportunternehmens, die darauf abzielt, die geschäftliche Kommunikation aufgrund ihrer Geschlechtsidentität zu personalisieren, weder objektiv unerlässlich noch wesentlich für die ordnungsgemäße Erfüllung eines Vertrags erscheint und daher nicht als für die Erfüllung dieses Vertrags erforderlich angesehen werden kann.
Zu Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. f) DS-GVO
Nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. f) DS‑GVO ist eine Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig, wenn sie „zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich [ist], sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen, insbesondere dann, wenn es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt“.
Nach ständiger Rechtsprechung ist die Verarbeitung personenbezogener Daten nach dieser Bestimmung unter drei kumulativen Voraussetzungen rechtmäßig: Erstens muss von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen oder von einem Dritten ein berechtigtes Interesse wahrgenommen wer‑ den, zweitens muss die Verarbeitung der personenbezogenen Daten zur Verwirklichung des berechtigten Interesses erforderlich sein, und drittens dürfen die Interessen oder Grund‑ rechte und Grundfreiheiten der Person, deren Daten geschützt werden sollen, gegenüber dem berechtigten Interesse des Verantwortlichen oder eines Dritten nicht überwiegen (Urt. v. 04.07.2023, Meta Platforms u.a. [Allgemeine Nutzungsbedingungen eines sozialen Netzwerks], C‑252/21, EU:C:2023:537, Rn. 106, und vom v. 04.10.2024, Koninklijke Nederlandse Lawn Tennisbond, C‑621/22, EU:C:2024:857, Rn. 37).
Was erstens die Voraussetzung der Wahrnehmung eines berechtigten Interesses betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass es nach Art. 13 Abs. 1 lit. d) DS‑GVO dem Verantwortlichen obliegt, einer betroffenen Person zu dem Zeitpunkt, zu dem personenbezogene Daten bei ihr erhoben werden, die verfolgten berechtigten Interessen mitzuteilen, wenn diese Verarbeitung auf Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. f) DS‑GVO beruht. In Ermangelung einer Definition des Begriffs „berechtigtes Interesse“ durch die DS‑GVO kann ein breites Spektrum von Interessen grundsätzlich als berechtigt gelten. Insbesondere ist dieser Begriff nicht auf gesetzlich verankerte und bestimmte Interessen beschränkt. (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 04.07.2023, Meta Platforms u.a. [Allgemeine Nutzungsbedingungen eines sozialen Netzwerks], C‑252/21, EU:C:2023:537, Rn. 107, und v. 04.10.2024, Koninklijke Nederlandse Lawn Tennisbond, C‑621/22, EU:C:2024:857, Rn. 38, 40 und 41 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
So geht aus dem 47. ErwG der DS‑GVO hervor, dass ein solches Interesse beispielsweise vorliegen könnte, wenn eine maßgebliche und angemessene Beziehung zwischen der betroffenen Person und dem Verantwortlichen besteht, z.B. wenn die betroffene Person ein Kunde des Verantwortlichen ist.
Was zweitens die Voraussetzung der Erforderlichkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten zur Verwirklichung des wahrgenommenen berechtigten Interesses betrifft, ist es in Anbetracht der in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob das berechtigte Interesse an der Verarbeitung der Daten nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Personen eingreifen, wobei eine solche Verarbeitung innerhalb der Grenzen dessen erfolgen muss, was zur Verwirklichung dieses berechtigten Interesses unbedingt notwendig ist.
In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung der Erforderlichkeit der Datenverarbeitung gemeinsam mit dem Grundsatz der Datenminimierung zu prüfen ist, der in Art. 5 Abs. 1 lit. c) DS‑GVO verankert ist und verlangt, dass personenbezogene Daten dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sind (Urt. v. 12.09.2024, HTB Neunte Immobilien Portfolio und Ökorenta Neue Energien Ökostabil IV, C‑17/22 und C‑18/22, EU:C:2024:738, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung)
Was schließlich drittens die Voraussetzung betrifft, dass die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der Person, deren Daten geschützt werden sollen, gegenüber dem berechtigten Interesse des Verantwortlichen oder eines Dritten nicht überwiegen, hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Voraussetzung eine Abwägung der einander gegenüberstehenden Rechte und Interessen gebietet, die grundsätzlich von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängt, und dass es daher Sache des vorlegenden Gerichts ist, diese Abwägung unter Berücksichtigung dieser spezifischen Umstände vorzunehmen. Wie sich aus dem 47. ErwG der DS‑GVO ergibt, können die Interessen und Grundrechte der betroffenen Person das Interesse des Verantwortlichen insbesondere dann überwiegen, wenn personenbezogene Daten in Situationen verarbeitet werden, in denen eine betroffene Person vernünftigerweise nicht mit einer solchen Verarbeitung rechnet (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 12.09.2024, HTB Neunte Immobilien Portfolio und Ökorenta Neue Energien Ökostabil IV, C‑17/22 und C‑18/22, EU:C:2024:738, Rn. 53 und 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Was die erste, in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung betrifft, wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, zu prüfen, ob SNCF Connect ihren Kunden in der Phase der Erhebung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Daten gem. Art. 13 Abs. 1 lit. d) DS‑GVO ein berechtigtes Interesse mit‑ geteilt hat. Wie der Generalanwalt in Nr. 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, verlangt diese Bestimmung, dass den betroffenen Personen zum Zeitpunkt der Erhebung der Daten unmittelbar das verfolgte berechtigte Interesse mitgeteilt wird, da andernfalls diese Erhebung nicht auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. f) dieser Verordnung gerechtfertigt werden kann. Anhand der dem Gerichtshof vorliegenden Akten lässt sich nicht beurteilen, ob diese Anforderung im Rahmen des Ausgangsverfahrens erfüllt wurde.
In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass SNCF Connect in ihren schriftlichen Erklärungen auf einen Zweck der kommerziellen Direktwerbung Bezug genommen hat, der eine Personalisierung der Kommunikation und damit die Verarbeitung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Daten erfordern könnte.
Insoweit kann nach dem letzten Satz des 47. ErwG der DS‑GVO die Verarbeitung personenbezogener Daten zum Zwecke der Direktwerbung als eine einem berechtigten Interesse dienende Verarbeitung betrachtet werden. Insbesondere kann die Personalisierung der Werbung in einem solchen Kontext der kommerziellen Direktwerbung gleichgestellt werden (vgl. entsprechend Urt. v. 04.07.2023, Meta Platforms u.a. [All‑ gemeine Nutzungsbedingungen eines sozialen Netzwerks], C‑252/21, EU:C:2023:537, Rn. 115).
Was die zweite, in Rn. 48 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung betrifft, kann sich, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, eine Personalisierung der kommerziellen Direktwerbung auf die Verarbeitung der Namen und Vornamen der Kunden beschränken, da ihre Anrede und/oder Geschlechtsidentität eine Information ist, die in diesem Zusammenhang, insbesondere im Licht des Grundsatzes der Datenminimierung, nicht unbedingt notwendig erscheint.
SNCF Connect und die französische Regierung machen in ihren jeweiligen schriftlichen Erklärungen geltend, dass zur Beurteilung der Erforderlichkeit einer Verarbeitung personenbezogener Daten die Gepflogenheiten und gesellschaftlichen Konventionen des jeweiligen Mitgliedstaats zu berück‑ sichtigen seien, insbesondere um die im vierten ErwG der DS‑GVO erwähnte sprachliche und kulturelle Vielfalt zu wahren. Allerdings ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. f) DS‑GVO bei der Beurteilung der Erforderlichkeit einer solchen Verarbeitung keine Berücksichtigung der Gepflogenheiten und gesellschaftlichen Konventionen vorsieht, wobei dieser Artikel, wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, eng auszulegen ist.
Zum anderen dürfte die fehlende Verarbeitung von Daten hinsichtlich der Anrede oder der Geschlechtsidentität der betroffenen Kunden diese Vielfalt nicht beeinträchtigen. Wie sich nämlich aus Rn. 40 des vorliegenden Urteils ergibt, steht es dem Verantwortlichen frei, diese Gepflogenheiten und gesellschaftlichen Konventionen dadurch einzuhalten, dass er – sei es gegenüber Kunden, die ihre Anrede nicht angeben möchten, sei es generell – allgemeine und inklusive Höflichkeitsformeln verwendet, die in keinem Zusammenhang mit der Geschlechtsidentität dieser Kunden stehen, so dass das Vorbringen von SNCF Connect und der französischen Regierung jedenfalls nicht durchgreifen kann.
In Bezug auf die dritte, in Rn. 50 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung und die Abwägung der jeweiligen einander gegenüberstehenden Rechte und Interessen, d.h. derjenigen des Verantwortlichen einerseits und der betroffenen Person andererseits, sind insbesondere die vernünftigen Erwartungen der betroffenen Person sowie der Umfang der fraglichen Verarbeitung und deren Auswirkungen auf diese Person zu berücksichtigen (Urt. v. 04.07.2023, Meta Platforms u.a. [Allgemeine Nutzungsbedingungen eines sozialen Netzwerks], C‑252/21, EU:C:2023:537, Rn. 116).
Wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, kann der Kunde eines Transportunternehmens, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, nicht absehen, dass dieses Unternehmen Daten hinsichtlich seiner Anrede oder Geschlechtsidentität im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Fahrscheins verarbeitet. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn die‑ se Verarbeitung ausschließlich für Zwecke der kommerziellen Direktwerbung durchgeführt würde.
Das berechtigte Interesse an kommerzieller Direktwerbung kann im Fall der Gefahr einer Beeinträchtigung der Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person jedenfalls nicht überwiegen. Wie sich nämlich aus dem 75. ErwG der DS‑GVO ergibt, können Risiken für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen – mit unterschiedlicher Eintrittswahrscheinlichkeit und Schwere – aus einer Verarbeitung personenbezogener Daten hervorgehen, die zu einem physischen, materiellen oder immateriellen Schaden führen könnte, insbesondere wenn eine solche Verarbeitung zu einer Diskriminierung führen kann.
In diesem Zusammenhang wird das vorlegende Gericht insbesondere zu prüfen haben, ob die von Mousse geltend gemachte Gefahr einer Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität besteht, und zwar vor allem im Licht der Richtlinie 2004/113, mit der der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen verwirklicht wird.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich dieser Richtlinie nicht auf die Diskriminierungen beschränkt werden kann, die sich aus der Zugehörigkeit zu dem einen oder dem anderen Geschlecht ergeben. In Anbetracht ihres Gegenstands und der Natur der Rechte, die sie schützen soll, hat diese Richtlinie auch für Diskriminierungen zu gelten, die ihre Ursache in der Änderung der Geschlechtsidentität einer Person haben (vgl. entsprechend Urt. v. 27.04.2006, Richards, C‑423/04, EU:C:2006:256, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). […]
Zur zweiten Frage:
Art. 21 Abs. 1 DS‑GVO bestimmt, dass die betroffene Person das Recht hat, aus Gründen, die sich aus ihrer besonderen Situation ergeben, jederzeit gegen die Verarbeitung sie be‑ treffender personenbezogener Daten, die aufgrund von Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. e) oder f) DS‑GVO erfolgt, Widerspruch einzulegen; dies gilt auch für ein auf diese Bestimmungen gestütztes Profiling. Der Verantwortliche darf die personenbezogenen Daten dann nicht mehr verarbeiten, es sei denn, er kann zwingende schutzwürdige Gründe für eine solche Verarbeitung nachweisen, die die Interessen sowie die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person überwiegen, oder die Verarbeitung dient der Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen.
Die Anwendbarkeit von Art. 21 DS‑GVO und folglich das etwaige Bestehen eines Widerspruchsrechts setzen das Vor‑ liegen einer rechtmäßigen Verarbeitung voraus, hier gestützt auf Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. f) DS‑GVO. Um rechtmäßig zu sein, muss eine solche Verarbeitung jedoch zuvor die in Rn. 48 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung erfüllen, dass sie unbedingt notwendig ist.
Wie der Generalanwalt in den Nrn. 80 und 82 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich somit aus dem Wortlaut und der Systematik der betreffenden Bestimmungen, dass das Bestehen eines Widerspruchsrechts bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit und insbesondere der Notwendigkeit der Verarbeitung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden personenbezogenen Daten nicht berücksichtigt werden kann.
Diese Auslegung wird durch das mit der DS‑GVO verfolgte Ziel bestätigt, das im Licht ihres zehnten ErwG darin besteht, ein hohes Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu gewährleisten. Jede andere Auslegung würde nämlich zu einer Schwächung der in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. f) DS‑GVO genannten Anforderungen führen, indem die Gründe für die Rechtmäßigkeit der betreffenden Verarbeitung erweitert würden, obwohl diese Bestimmung in Anbetracht der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eng auszulegen ist.
Zur Vertiefung
[Urteil] Enge Auslegung des Begriffs des berechtigten Interesses = RDV 1/2025