Kurzbeitrag : Die rechtswidrige Speicherung von Restverdachtsdaten durch die Polizei NRW: Eine rechtliche Einordnung und Beurteilung von Lösungsvorschlägen : aus der RDV 6/2023, Seite 376-380
Das Verhältnis der Datenübermittlung zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei wirft exemplarische Fragen im Regelungskontext von Strafprozessrecht, Polizeirecht, Landesdatenschutzrecht und DS-GVO auf. Im Datenschutzbericht 2021 hat die Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationssicherheit Nordrhein-Westfalen (LDI), kritisiert, dass in den Datenbanken der nordrhein-westfälischen Polizei Daten gespeichert werden, die nach den geltenden gesetzlichen Regelungen zu löschen wären.[1] Damit hat sich der Landtag Nordrhein-Westfalen in einer Sachverständigenanhörung auseinandergesetzt. Der vorliegende Beitrag stellt die Erkenntnisse der hierzu eingereichten Stellungnahmen zusammenfassend dar, indem er die rechtlichen Implikationen der Problematik aus polizeilicher und aus staatsanwaltschaftlicher Perspektive beleuchtet und zu den einzelnen Lösungsvorschlägen der Sachverständigen kritisch Stellung nimmt.
I. Einführung
Konkret kritisiert die LDI den Umgang mit sogenannten Restverdachtsdaten: Grundsätzlich darf die Polizei zu Zwecken der Gefahrenabwehr die Daten ehemals Beschuldigter speichern, auch nachdem ein entsprechendes Strafverfahren seinen Abschluss ohne eine Verurteilung gefunden hat. Dies gilt unter Umständen sogar, wenn die betroffene Person ausdrücklich freigesprochen wurde. Das BVerfG hat eine Speicherung dieser Restverdachtsdaten für präventiv-polizeiliche Zwecke bereits im Jahr 2002 gebilligt.[2]
Dass die Polizeibehörden personenbezogene Daten trotz eines Freispruchs weiterhin verarbeiten, ist nach der im Ergebnis überzeugenden Rechtsprechung des Gerichts nicht als Verstoß gegen die in Art. 6 Abs. 2 EMRK vorgeschriebene Unschuldsvermutung zu qualifizieren, da die Berücksichtigung und Bewertung von Verdachtsgründen keine durch die Unschuldsvermutung verbotene Schuldfeststellung oder -zuweisung darstellt.[3] Letztlich wird insofern, wenn auch über Umwege, so doch konsequent festgestellt, dass die Unschuldsvermutung auf die Arbeit der Polizei zur Gefahrenabwehr nicht ohne weiteres übertragbar ist.
Nichtsdestotrotz ist die weitere Verarbeitung im Rahmen eines Strafverfahrens erhobener personenbezogener Daten zu Zwecken der Gefahrenabwehr ein sensibles Thema: So steht zu befürchten, dass betroffene Personen aufgrund der Speicherung von Restverdachtsdaten im Rahmen von Exekutivmaßnahmen vielfach so behandelt werden, als hätten sie die Tat begangen.[4] Umso wichtiger ist nach der Rechtsprechung des BVerfG die Einhaltung der gesetzlichen Voraussetzungen der Datenspeicherung und die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im konkreten Fall.[5]
Rechtsgrundlage der Speicherung personenbezogener Daten nach Abschluss eines Strafverfahrens sind in Nordrhein-Westfalen § 484 Abs. 1 StPO und § 22 Abs. 1 PolG NRW. § 484 Abs. 1 StPO erlaubt in diesem Kontext stets die Speicherung eines Basisdatensatzes. Die Speicherung darüber hinausgehender Restverdachtsdaten steht hingegen unter dem Vorbehalt des § 484 Abs. 2 StPO und des § 22 Abs. 3 PolG NRW. Hiernach dürfen Daten, die über den in § 484 Abs. 1 StPO genannten Basisdatensatz hinausgehen, nicht gespeichert werden, wenn sich aus Gründen der Entscheidung ergibt, dass die betroffene Person die Tat nicht oder nicht rechtswidrig begangen hat. Gerade diese Einschränkung wird in der staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Praxis in Nordrhein-Westfalen nach den Erkenntnissen der LDI indes nicht hinreichend berücksichtigt.[6]
II. Staatsanwaltschaftliche Perspektive
Die beschriebenen Einschränkungen der polizeilichen Befugnis zur Speicherung von Restverdachtsdaten machen es erforderlich, dass die Staatsanwaltschaften die Polizeibehörden über den Ausgang der geführten Strafverfahren informieren. In der staatsanwaltschaftlichen Betrachtung ist diese Notwendigkeit in einer klaren rechtlichen Verankerung manifestiert: Diese ist insbesondere § 482 Abs. 2 StPO i.V.m Nr. 11 der MiStra zu entnehmen. Um diese rechtlich verankerte Informationspflicht sachgerecht zu erfüllen, bedienen sich die Staatsanwaltschaften des standardisierten Formulars ACUSTA 170-7. Die zentrale Intention hinter diesem Formular ist zweierlei: Zum einen soll es polizeilichen Behörden eine transparente, klar strukturierte Übersicht über den Verfahrensausgang bereitstellen und zum anderen die Realisierung der Löschpflichten seitens der Polizei erleichtern und sicherstellen.[7]
Innerhalb dieses Formulars haben die Staatsanwaltschaften die Möglichkeit, mittels drei spezifizierter Kennziffern die Diversität der Gründe für eine Einstellung des Strafverfahrens zu kommunizieren, und somit auch etwaige Restverdachtsmomente explizit zu verdeutlichen:
- Die Anwendung der Kennziffer 4011 signalisiert, dass der Beschuldigte die inkriminierte Tat entweder nicht begangen hat oder jene nicht als rechtswidrig einzustufen ist. Vor diesem Hintergrund erfüllen die Kriterien des § 484 Abs. 2 S. 2 StPO und des § 22 Abs. 3 S. 1 PolG NRW die juristischen Anforderungen. Dies impliziert, dass jegliche fortgesetzte Speicherung personenbezogener Daten durch polizeiliche Behörden unzulässig ist.
- Die Kennziffer 4013 dient der Signifikation von Verfahrenseinstellungen, bei welchen initiativ kein Anfangsverdacht konstituiert werden konnte. Da in solchen Konstellationen typischerweise die Bedingungen des § 484 Abs. 2 S. 2 StPO und des § 22 Abs. 3 S. 1 PolG NRW erfüllt sind, erweist sich die Speicherung entsprechender Daten als nicht legitim.
- Hingegen kennzeichnet die Kennziffer 4012 jene Fälle von Verfahrenseinstellungen, die aus einem unzureichenden Tatnachweis resultieren. Ein potenzieller Restverdacht besteht lediglich dann, wenn diese Kennziffer zur Anwendung kommt und eine Tatbeweisführung obsolet war, da die Kriterien des § 484 Abs. 2 S. 2 StPO und des § 22 Abs. 3 S. 1 PolG NRW nicht zutreffen. In diesen Szenarien mag eine erweiterte Datenspeicherung rechtlich zulässig sein.[8]
Die differenzierte Handhabung und Bedeutung dieser Kennziffern fand bereits in den einschlägigen Erlassen des Justizministeriums Berücksichtigung.[9] Aus staatsanwaltschaftlicher Perspektive problematisch ist der Umstand, dass nach den Erkenntnissen der LDI in zahlreichen Verfahren pauschal auf die Kennziffer 4012 zurückgegriffen wird, ohne dass deren Voraussetzungen tatsächlich vorliegen. Dadurch entsteht bei den Polizeibehörden der Eindruck, dass die Voraussetzungen des § 484 Abs. 2 S. 2 StPO bzw. des § 22 Abs. 3 S. 1 PolG NRW nicht vorliegen und die Speicherung von Restverdachtsdaten damit rechtlich zulässig sein kann.
III. Polizeiliche Perspektive
Rechtliche Grundlage für die Speicherung von Restverdachtsdaten durch die Polizei sind § 484 Abs. 1, 2 StPO und § 22 Abs. 1 PolG NRW. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung zu unterstreichen, dass das alleinige Fehlen eines Beweises für eine begangene Straftat nicht unmittelbar die Befugnis zur Datenspeicherung aufgrund eines Restverdachts rechtfertigt. Konkret bedeutet das, dass die Speicherung von Restverdachtsdaten auch dann nicht stets zulässig ist, wenn die Staatsanwaltschaft (korrekt oder inkorrekt) die Kennziffer 4012 gewählt hat. Es liegt vielmehr in der Zuständigkeit und Verantwortung der Polizei, in diesen besonderen Fällen sorgfältig abzuwägen, ob eine Datenspeicherung im Hinblick auf einen vorliegenden Restverdacht sinnvoll und angemessen ist, um zukünftige Straftaten effektiv verhindern zu können. Die Polizei darf Restverdachtsdaten damit nur speichern, wenn sie nach einer gründlichen und umfassenden Bewertung aller vorliegenden Fakten und Umstände zu der Überzeugung gelangt, dass die Speicherung dieser Daten im Interesse der Kriminalprävention unerlässlich ist. Die Polizeibehörden sind jedoch oft auf zusätzliche Informationen angewiesen, um eine fundierte Entscheidung über die Datenspeicherung treffen zu können. Die Mitteilungspflicht nach § 482 Abs. 2 StPO i.V.m. Nr. 11 MiStra umfasst indes lediglich eine Information über den Ausgang des Verfahrens. Die Gründe, die dem Verfahrensausgang im Einzelnen zugrunde liegen und von der Polizei bei der beschriebenen Abwägung berücksichtigt werden müssten, sind indes nicht umfasst. Daher haben die Polizeibehörden grundsätzlich die Möglichkeit, gemäß § 474 Abs. 2 S. 1 StPO von den Staatsanwaltschaften zusätzliche Auskünfte einzufordern. Dies dient der Sicherstellung, dass die Polizei stets Zugang zu allen notwendigen Informationen erhält, die ihr eine angemessene Entscheidung über die Speicherung personenbezogener Daten ermöglichen. Es steht allerdings zu befürchten, dass sich die Polizeibehörden im Einzelfall der Grundrechtsrelevanz ihres Handelns bei der Speicherung von Restverdachtsdaten nicht bewusst sind und deshalb von Nachfragen auf Grundlage von § 474 Abs. 2 S. 1 StPO absehen.[10]
IV. Folgen der beschriebenen Praxis für die Rechte Betroffener
Die Speicherung von Restverdachtsdaten verstößt in Nordrhein-Westfalen nach den Schilderungen der LDI in zahlreichen Fällen gegen die geschilderte geltende Rechtslage.[11] Ein Verstoß bedingt dabei in jedem Fall eine Verletzung der Rechte der betroffenen Personen. Zwar dient die Speicherung von Restverdachtsdaten durch die Polizei dem Schutz vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, sodass der sachliche Anwendungsbereich der DS-GVO gemäß Art. 2 Abs. 2 lit. d DS-GVO nicht eröffnet und eine Verletzung der in der DS-GVO garantierten Rechte damit nicht zu befürchten ist.
Allerdings stellt die Verarbeitung und damit auch die Speicherung personenbezogener Daten einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG dar[12]. Ein solcher Eingriff bedarf stets einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, die nur dann gegeben ist, wenn die von einem normenklaren und verhältnismäßigen Gesetz aufgestellten Voraussetzungen im Einzelfall eingehalten werden. Ist dies wie in der von der LDI beschriebenen Praxis nicht der Fall, werden die von der Speicherung betroffenen Personen in ihrem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt. Entsprechend kommt auch eine Verletzung des Rechts auf den Schutz personenbezogener Daten aus Art. 8 Abs. 1 GRCh in Betracht, die in Ermangelung vollständig vereinheitlichten Unionsrechts in den vorliegenden Konstellationen indes nicht vom BVerfG geprüft würde.[13]
V. Lösungsansätze
In den Stellungnahmen der Sachverständigen wurden verschiedene Ansätze vorgetragen, die dazu beitragen sollen, die Staatsanwaltschaften und die Polizei für die Grundrechtserheblichkeit ihres Handelns zu sensibilisieren und Grundrechtsverletzungen künftig zu verhindern. Die Sachverständigen waren sich im Wesentlichen darüber einig, dass die Einhaltung der bestehenden gesetzlichen Vorgaben bereits einen erheblichen Fortschritt bringen würde.[14] Umstritten war hingegen die Frage, mit welchen Maßnahmen dies am ehesten sichergestellt werden kann. Die vorgetragenen Ansätze sollen im Folgenden kritisch beleuchtet werden.
1. Datenverarbeitungsgesetz NRW
Teilweise wurde im Rahmen der Sachverständigenanhörung die Auffassung vertreten, dass eine gesonderte Kodifizierung der Datenverarbeitung durch die Polizei in Nordrhein-Westfalen Abhilfe schaffen könnte.[15] Argumentiert wurde dabei insbesondere mit dem stark angewachsenen Umfang datenschutzrechtlicher Regelungen und deren wachsender praktischer Relevanz. In einem solchen Gesetz sollte nach dieser Ansicht dann auch der Begriff des Restverdachts gesetzlich definiert werden.
Dieser Ansicht wurde entgegengehalten, dass das derzeit von PolG NRW und DSG NRW aufgestellte Regelungsregime den rechtsstaatlichen Bestimmtheits- und Transparenzanforderungen durchaus genüge.[16] Eine Erleichterung der Rechtsanwendung ist durch ein spezielles Datenverarbeitungsgesetz für die Polizei in Nordrhein-Westfalen tatsächlich nicht garantiert. Es steht vielmehr zu befürchten, dass gerade in der polizeilichen Praxis einschränkende Regelungen zum Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung weniger beachtet werden, wenn sie in einem speziellen Gesetz festgelegt sind, getrennt von den klassischen Befugnisnormen.
Ebenso erscheint eine gesetzliche Definition des Begriffs des Restverdachts nicht erforderlich. Der Begriff ist in der Rechtsprechung hinreichend konkretisiert.[17]
2. Umfassende Berichterstattung durch die Staatsanwaltschaften
Teilweise wurde für eine umfassende Berichterstattung durch die Staatsanwaltschaften gegenüber der Polizei argumentiert.[18] Demnach sollen die Staatsanwaltschaften freiwillig oder auf Grundlage einer rechtlichen Verpflichtung von Amts wegen und ohne separate Aufforderung durch die Polizei die gesamte Entscheidung bzw. die tragenden wesentlichen Gründe mitteilen.[19] Begründet wurde dieser Vorschlag mit einer Effizienzsteigerung im Vergleich zu den nach geltendem Recht erforderlichen Rückfragen der Polizei bei den Staatsanwaltschaften.
Dem Vorschlag, der insbesondere von der LDI vorgetragen wurde, ist zwar insofern beizupflichten, als eine umfassende, durch die Staatsanwaltschaften initiierte Berichterstattung dabei helfen würde, die Polizei auf den Kenntnisstand zu bringen, der zur Ausübung des Ermessens bei der Beurteilung des Vorliegens eines Restverdachts erforderlich ist. Gerade das Argument der Effizienzsteigerung dürfte in der staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Praxis indes auf Widerstand stoßen. Im Jahr 2021, also in dem Zeitraum, der dem Bericht der LDI zugrunde liegt, wurden in NordrheinWestfalen 33.310 Strafverfahren eingestellt,[20] 5.878 Verfahren mit einem Freispruch beendet[21] und in 528 weiteren Verfahren wurde die Eröffnung der Hauptverhandlung abgelehnt.[22]
Selbst wenn die Staatsanwaltschaften die Entscheidungsgründe lediglich in den Fällen initiativ an die Polizeien weiterleiten, in denen kein Tatnachweis erbracht werden konnte und daher die Speicherung von Restverdachtsdaten denkbar ist, bleibt eine kaum überschaubare Zahl von Einzelfällen, die durch Polizeibeamte geprüft werden müssten. Die ohnehin überlasteten Polizeibehörden müsste sich tagtäglich durch seitenweise juristische Formulierungen wühlen, um das Vorliegen eines Restverdachts in jedem Einzelfall beurteilen zu können. Geholfen wäre damit wohl niemandem. Eine umfassende Berichterstattung durch die Staatsanwaltschaften gegenüber der Polizei mag daher zwar einen rechtlich wünschenswerten Zustand abbilden, der allerdings eine derart hohe Arbeitslast bei den Polizeibehörden mit sich bringen würde, dass er praktisch unbrauchbar ist.
Darüber hinaus dürfte die psychologische Schwelle, Daten nach der Durchsicht umfangreicher Entscheidungsgründe zu löschen, deutlich erhöht sein. Schließlich wird bei den Polizeibehörden ein den gesetzlichen Aufgaben entsprechendes Bedürfnis bestehen, möglichst viele Daten als Restverdachtsdaten zu speichern. Es besteht daher die Gefahr, dass der bearbeitende Polizeibeamte nach Durchsicht der Entscheidungsgründe das Gefühl hat, das Löschen der Daten würde die geleistete Arbeit zu Nichte machen. Das widerspricht aber gerade dem datenschutzrechtlichen Grundgedanken, der der geltenden Rechtslage zugrunde liegt.
3. Aufklärung der Polizei
Vorzugswürdig erscheint es demgegenüber die Staatsanwaltschaften und vor allem die Polizeibehörden über die Grundrechtserheblichkeit der Speicherung von Restverdachtsdaten aufzuklären und das bestehende Vollzugsdefizit auf diesem Wege aufzulösen.[23] Die dazu bereits an die Staatsanwaltschaften übermittelten Erlasse des Justizministeriums in Nordrhein-Westfalen[24] sind geeignet, die Situation jedenfalls bei der Justiz zu verbessern und dafür zu sorgen, dass nicht nahezu jeder Verfahrensausgang mit einem fehlenden Tatnachweis begründet wird (s. dazu oben II.). Informationsanforderungen nach § 474 Abs. 2 StPO sowie die Letztentscheidung über die Speicherung von Restverdachtsdaten sind indes durch die Polizeibehörden durchzuführen (s. dazu oben III.). Unter Berücksichtigung der Ressorthoheit müssten die Erwägungen der genannten Erlasse des Justizministeriums daher durch das Innenministerium auch an die Polizeibehörden herangetragen werden. Dies wäre etwa in Form einer Dienstanweisung oder in Form einer Verwaltungsvorschrift denkbar.[25] So könnte sichergestellt werden, dass die letztlich über die Speicherung entscheidenden Polizeibehörden über die geltende Rechtslage aufgeklärt sind und aufgrund eines hinreichenden Kenntnisstands angemessene Ermessensentscheidungen treffen können.
4. Technische Lösung
Eine praktische Umsetzung dieser Maßnahme könnte in der Informationsgesellschaft und zur Entlastung der Staatsanwaltschaften gegebenenfalls durch eine technische Lösung bewerkstelligt werden.[26] Eine entsprechende Software könnte in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Löschungs- und Aussonderungsprüffristen sowie unter Berücksichtigung des jeweiligen Verfahrensausgangs automatisch Mitteilungen an die Polizeibehörden senden.
Dieser Vorschlag imponiert vor allem durch die Möglichkeit, die eingesetzte Software an aktuelle Bedürfnisse anzupassen. So besteht die Möglichkeit, die Löschung der polizeilichen Daten nach Abschluss des Strafverfahrens zum Regelfall zu erklären, während die Speicherung als Restverdachtsdaten unter eine Begründungspflicht gestellt werden könnte. Außerdem könnten Polizeibeamte in jedem Einzelfall an die Grundrechtsrelevanz ihrer Entscheidung sowie an die Möglichkeit und das Erfordernis einer Rückfrage über die Entscheidungsgründe bei den Staatsanwaltschaften erinnert werden. Gegenüber der von der LDI vorgeschlagenen umfassenden und initialen Berichterstattung durch die Staatsanwaltschaften hätte dieser Ansatz den Vorteil, dass die Polizeibehörden aufgrund der übersichtlichen und derzeit bereits üblichen Kurzmitteilung entscheiden könnten, ob sich eine Nachprüfung lohnt, da möglicherweise ein die Speicherung rechtfertigender Restverdacht besteht, oder ob die Daten ohne weitere Prüfung gelöscht werden sollen.
5. Benachrichtigungspflicht gegenüber Betroffenen
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verlangt darüber hinaus, dass die betroffenen Personen über die Speicherung von Restverdachtsdaten in Kenntnis gesetzt werden. So dient es nicht nur als Abwehrrecht gegen staatliche Datenerhebung und -verarbeitung, sondern schützt auch das Interesse des Einzelnen, von staatlichen informationsbezogenen Maßnahmen zu erfahren.[27] Daneben ist die Kenntnis staatlicher Datenverarbeitung notwendige Voraussetzung, um gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen zu können.[28]
a) Erfordernis einer Benachrichtigungspflicht
Teilweise wurde in der Sachverständigenanhörung vertreten, dass das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung den Gesetzgeber nicht dazu verpflichte, eine spezifische Informationspflicht über die Speicherung von Restverdachtsdaten nach Abschluss eines Strafverfahrens zu etablieren. Dem ist entgegenzuhalten, dass nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Informationsmöglichkeit für den von einem Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung Betroffenen Voraussetzung dafür ist, dass er die Rechtswidrigkeit der Informationsgewinnung oder etwaige Rechte auf Löschung oder Berichtigung geltend machen kann.[29]
Aus § 47 PolG NRW folgt grundsätzlich die Pflicht der verantwortlichen Stelle, in allgemeiner Form über die von ihr vorgenommenen Datenverarbeitungen zu Informieren. Eine konkrete Informationspflicht über die Speicherung personenbezogener Daten nach Abschluss eines Strafverfahrens existiert indes nicht. Die StPO sieht insofern keine Benachrichtigungspflicht vor und die Benachrichtigungspflicht des § 33 Abs. 1 PolG NRW gilt grundsätzlich nicht für den Verarbeitungsvorgang der Speicherung nach § 22 Abs. 1 PolG NRW. Zwar hat der Betroffene grundsätzlich die Möglichkeit, einen Auskunftsanspruch nach § 491 Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 57 Abs. 1 S. 1 BDSG bzw. nach § 49 Abs. 1 S. 1 DSG NRW geltend zu machen. Das setzt aber voraus, dass der Betroffene nach einem für ihn positiven Abschluss eines Strafverfahrens überhaupt die Möglichkeit in Betracht zieht, dass seine im Rahmen des Verfahrens erhobenen Daten bei der Polizei zur Gefahrenabwehr gespeichert bleiben. Das darf durchaus bezweifelt werden.[30]
Damit der Betroffene seine Löschungsrechte aus § 489 Abs. 1 Nr. 2 StPO bzw. § 32 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 PolG NRW effektiv wahrnehmen kann, ist es daher geboten, ihn nach Abschluss des Strafverfahrens über die fortdauernde Speicherung seiner personenbezogenen Daten zur Gefahrenabwehr zu informieren. Die Information der betroffenen Personen sollte in diesem Fall auch die Gründe enthalten, auf die die Polizeibehörde ihre Entscheidung zur fortdauernden Speicherung stützt. Dies umfasst insbesondere die Informationen, die die Polizeibehörde nach § 474 Abs. 2 StPO von der Staatsanwaltschaft erhalten hat. Nur so hat die betroffene Person eine realistische Möglichkeit, vor den Verwaltungsgerichten gegen eine fortdauernde Speicherung vorzugehen.[31]
b. Einrichtung einer Zentralstelle zur Benachrichtigung der betroffenen Personen
Schließlich wurde vorgeschlagen, zur umfassenden Information der Betroffenen eine Zentralstelle einzurichten, die dem Beschuldigten zur Auskunft über die gespeicherten Daten nach Abschluss eines Strafverfahrens verpflichtet ist und der gegenüber ein Löschungsanspruch durchgesetzt werden kann.[32] Abermals wird hier indes von einer grundrechtlichen Idealvorstellung ausgegangen, die in der Praxis wohl häufig zu mehr Problemen führen dürfte als sie einen Beitrag zur Grundrechtssicherung leistet. So müsste die Korrespondenz nach Abschluss eines Strafverfahrens um einen weiteren Kommunikationspartner in Form der Zentralstelle ergänzt werden, während die Praxis derzeit bereits am Zwiegespräch zwischen Staatsanwaltschaften und Polizei scheitert.
Darüber hinaus liegt es nahe, dass bei der Zentralstelle zentrale Datenbanken eingerichtet werden müssen, in denen die polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Datensätze zusammenfließen. Dies wirft nicht nur die Frage auf, ob so noch dem Gebot der Datenminimierung entsprochen wird,[33] sondern verlangt auch die Berücksichtigung der strengen Rechtsprechung des BVerfG zur automatisierten Zusammenführung personenbezogener Daten.[34]
VI. Fazit
Die Kritik der LDI am bisweilen nachlässigen Umgang von Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden mit Restverdachtsdaten zeigt einmal mehr die oftmals unzureichende Sensibilität der Exekutive für die grundrechtliche Relevanz datenschutzrechtlicher Fragestellungen auf. Bei konsequenter Anwendung der geltenden Gesetze wäre das Problem in den Griff zu bekommen. Dazu kommen verschiedene Maßnahmen in Betracht. Eine automatisierte Weiterleitung aller Entscheidungsgründe an die Polizeibehörden könnte aus der isolierten Perspektive des Datenschutzes zu einem Idealzustand führen, sie ist angesichts der damit einhergehenden Arbeitslast aber praktisch kaum umzusetzen und im Rahmen der praktischen Konkordanz in Abwägung mit den im konkreten Anwendungsfall überwiegenden Belangen der Ermittlungsarbeit nicht zu vereinbaren. Überzeugender ist der Ansatz, die Polizeibehörden über die Grundrechtsrelevanz der Speicherung von Restverdachtsdaten aufzuklären. Dabei ist auch eine technische Lösung denkbar, die die Polizeibehörden im Einzelfall über die Voraussetzungen und Löschpflichten in Bezug auf Restverdachtsdaten hinweist. In jedem Fall sollte der Gesetzgeber eine Benachrichtigungspflicht etablieren, wonach die betroffene Person nach Abschluss eines Strafverfahrens über die fortdauernde Speicherung ihrer Daten als Restverdachtsdaten zu informieren ist. Nur so wird sichergestellt, dass die betroffene Person auch tatsächlich die Möglichkeit hat, ihre Löschungsrechte aus § 489 Abs. 1 Nr. 2 StPO bzw. § 32 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 PolG NRW effektiv wahrzunehmen und gegebenenfalls gerichtlich durchzusetzen.
* Prof. Dr. Rolf Schwartmann, hat an der Sachverständigenanhörung mitgewirkt. Die Co-Autoren sind wissenschaftliche Mitarbeiter der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht an der TH Köln und haben an der Stellungnahme mitgewirkt
[1] Gayk, 27. Bericht der Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein-Westfalen, Bettina Gayk, zum Datenschutz für die Zeit vom 01.01.2021 bis 31. Dezember 2021 (im Folgenden: 27. Bericht 2022), S. 52 ff.
[2] BVerfG, NJW 2002, 3231.
[3] BVerfG, NJW 2002, 3231 (3232).
[4] Ogorek, Alte Daten, neue Verdächtigungen? – Eine Kritik am polizeilichen Informationssystem INPOL, ZPR 2023, 86 (89).
[5] BVerfG, NJW 2002, 3231 (3232).
[6] Gayk, 27. Bericht 2022, S. 52 ff.
[7] Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, Kontrolle von Verfahrensrückmeldungen nach § 482 Strafprozessordnung (StPO) durch die Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Erlass v. 03.08.2022, S. 2.
[8] Kennziffer 4012 (kein Tatverdacht); vgl. Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, Kontrolle von Verfahrensrückmeldungen nach § 482 Strafprozessordnung (StPO) durch die Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Erlass v. 03.08.2022, S. 2
[9] Erlass des Ministeriums der Justiz Nordrhein-Westfalen v. 03.08.2022; Erlass des Ministeriums der Justiz Nordrhein-Westfalen v. 18.01.2023
[10] Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, Kontrolle von Verfahrensrückmeldungen nach § 482 Strafprozessordnung (StPO) durch die Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Erlass v. 18.01.2023, S. 1 f.
[11] Gayk, 27. Bericht 2022, S. 53 f.
[12] BVerfGE 65, 1 (43 f.)
[13] Vgl. BVerfGE 152, 216.
[14] LT-Stellungnahme 18/573, S. 6; LT-Stellungnahme 18/576, S. 5 f.; LT-Stellungnahme 18/577, S. 7 f
[15] LT-Stellungnahme 18/577, S. 8 f.
[16] LT-Stellungnahme 18/582, S. 18.
[17] So auch LT-Stellungnahme 18/582, S. 18; LT-Stellungnahme 18/648, S. 12.
[18] LT-Stellungnahme 18/573, S. 6; LT-Stellungnahme 18/577, S. 7 f
[19] LT-Stellungnahme 18/573, S. 6.
[20] Tabellenband zur Strafverfolgungsstatistik 2015-2021 – Auswertung des Ministeriums der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, S. 20
[21] Tabellenband zur Strafverfolgungsstatistik 2015-2021 – Auswertung des Ministeriums der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, S. 20
[22] Statistisches Bundesamt (Destatis), Rechtspflege – Strafgerichte, 2021, S. 30.
[23] LT-Stellungnahme 18/648, S. 5, 11; LT-Stellungnahme 18/582, S. 17
[24] Erlass des Ministeriums der Justiz Nordrhein-Westfalen vom 03.08.2022; Erlass des Ministeriums der Justiz Nordrhein-Westfalen vom 18.01.2023.
[25] LT-Stellungnahme 18/648, S. 5.
[26] LT-Stellungnahme 18/576, S. 5 f.
[27] BVerfGE 120, 351 (360).
[28] LT-Stellungnahme 18/576, S. 8.
[29] BVerfGE 120, 351 (360)
[30] LT-Stellungnahme 18/648, S. 13
[31] LT-Stellungnahme 18/648, S. 13
[32] LT-Stellungnahme 18/573, S. 7; LT-Stellungnahme 18/577, S. 10.
[33] Vgl. LT-Stellungnahme 18/573, S. 7 f.
[34] LT-Stellungnahme 18/648, S. 14; vgl. BVerfG, Urt. des Ersten Senats vom 16.02.2023 – 1 BvR 1547/19 und 1 BvR 2634/20 – Automatisierte Datenanalyse.